Antisemitismus entschlossen entgegentreten
"Antisemitismus ist facettenreich. Es ist als Gesellschaft im Land der Täter der Shoah unsere Pflicht zu erkennen, wo er herkommt. Es gibt ihn in allen Milieus, in islamischen, in rechten, in linken, aber auch leider tief verwurzelt in der gesellschaftlichen Mitte." sagt Anne Helm in ihrer Rede im Rahmen der Aktuellen Stunde.
79. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses, 20. Mai 2021
Zur Aktuellen Stunde
Anne Helm (LINKE):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Berlin ist Heimat und Zufluchtsort für Menschen, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind. Viele Berlinerinnen und Berliner sind in Gedanken bei ihren Verwandten und bei ihren Freunden in Aschkelon, die vor Raketenbeschuss in Schutzräume fliehen müssen oder auch aus ihren Häusern in Sheikh Jarrah vertrieben wurden. Unser Mitgefühl gilt allen, die um Angehörige trauern oder um sie bangen. Sich in diesem Konflikt auch in Berlin politisch auseinanderzusetzen und sich auch emotional dazu zu äußern, ist verständlich und absolut legitim. Es ist das eine, für Frieden auf die Straße zu gehen und sich mit den Streikenden vor Ort zu solidarisieren, aber es ist etwas völlig anderes, Terrorpropaganda und Vernichtungsforderungen gegen Israel auf die Straße zu tragen. Aus der abstrakten Bedrohung ist konkretes Handeln geworden. Jüdinnen und Juden werden auf offener Straße angegriffen, geschlagen, bespuckt und für die Politik Israels in Kollektivhaft genommen. Das ist völlig inakzeptabel.
Türkische Faschisten demonstrierten am Samstag Schulter an Schulter mit islamistischen und maoistischen Splittergruppen, und auch Attila Hildmann ruft zu den Demonstrationen auf. Hier bildet sich eine Allianz, die wenig eint, außer ihr gemeinsames Feindbild – in ihren Worten: der Jude. Antisemitismus ist facettenreich, und es ist als Gesellschaft im Land der Täter der Shoah unsere Pflicht zu erkennen, wo er herkommt und wie er sich verstärkt. Dazu gehört, dass Antisemitismus nicht erst beim Vernichtungsgedanken extrem rechter Couleur beginnt. Es gibt ihn in allen Milieus, in islamischen, in rechten, in linken, aber auch leider tief verwurzelt in der gesellschaftlichen Mitte. Er tritt codiert und verklausuliert auf, aber die Bedrohung ist sehr real. Es ist vielleicht eine abstrakte Bedrohung für unsere Demokratie, aber eine sehr konkrete für Jüdinnen und Juden.
Die Forderungen, die hier geäußert worden sind, Antisemitinnen und Antisemiten abzuschieben, sind rein rassistisch motiviert, und sie helfen nicht, Antisemitismus zu bekämpfen. Das ist Ihre Antwort auf alles – ob es um Mietenpolitik geht, ob es um Verkehrspolitik geht. Das kann nichts beitragen zur Antisemitismusdebatte, denn die Abgeschobenen bleiben ja Antisemitinnen und Antisemiten, egal wo sie leben.
Antisemitismus ist leider tief in der Gesellschaft verankert, und gerade in Krisenzeiten bricht er sich immer wieder Bahn. Bereits im Mittelalter suchten sich Menschen während der Pestepidemien Sündenböcke, die für all den Tod und das Leid zur Verantwortung gezogen werden konnten. Viel zu oft fand man diese dann in den lokalen Judenvierteln. Die Folgen waren Pogrome und Brandschatzungen. Wie man seit Beginn der Coronapandemie in Deutschland sehen kann, sind diese Mechanismen immer noch da. Auf den Veranstaltungen der Querdenker werden uralte und neue antisemitische Verschwörungsmythen verbreitet. Damals sollen sie Brunnenvergifter gewesen sein, heute planen sie angeblich die Ausrottung der Menschheit durch Impfungen. Solche Ideologien sind im letzten Jahr erschreckend anschlussfähig geworden und wurden auch immer aggressiver kommuniziert. In dieser schon antisemitisch aufgeladenen Grundstimmung wirkt die Eskalation in Israel und Palästina wie ein Brandbeschleuniger.
Wir als rot-rot-grüne Koalition haben schon eine ganze Menge auf dem Feld der Antisemitismusbekämpfung erreicht. Wir haben das Berliner Landeskonzept zur Antisemitismusprävention weiterentwickelt. Wir haben auch eine Stelle zur Sensibilisierung und Bekämpfung von Antisemitismus in der Berliner Polizei und bei der Staatsanwaltschaft eingesetzt, und mit Samuel Salzborn haben wir endlich einen Ansprechpartner des Landes Berlin gegen Antisemitismus.
Aber es bleibt auch noch viel zu tun: Vor allem im Netz zeigt sich aktuell das Ausmaß des Antisemitismus in neuer Schärfe. Durch die sozialen Medien kursieren die immer selben Falschmeldungen, antisemitische Ideologien, Aufrufe zur Gewalt. Wir brauchen endlich Mechanismen, Monitoringprogramme und Präventionsmaßnahmen, die sich mit Onlinehetze auseinandersetzen. Da reicht es auch nicht, einmalig das Thema Hate-Speech im Berliner Verfassungsschutzbericht als Sonderthema zu behandeln. An dieser Stelle ist vor allem die Bundesregierung gefragt. Auch online muss aufsuchende Präventionsarbeit gegen Antisemitismus finanziert werden. Wir haben hier erfahrene Partnerinnen und Partner mit klugen Konzepten, die sie der Bundesfamilienministerin vorgestellt haben. Ich hoffe sehr, dass Frau Lamprecht diese unverhofften zusätzlichen Aufgaben mit der notwendigen Ernsthaftigkeit annehmen wird.
Wir befinden uns gerade im Festjahr zu 1 700 Jahren jüdisches Leben in Deutschland, und immer noch scheint es nicht klar zu sein, dass ein Anschlag auf eine Synagoge keine legitime Kritik an israelischer Politik sein kann. 2017 urteilte das Düsseldorfer Oberlandesgericht, bei einem Anschlag auf eine Synagoge nach den Eskalationen im Nahen Osten 2014 handele es sich nicht um Antisemitismus, sondern um Israelkritik. Das ist Wasser auf die Mühlen der Antisemitinnen und Antisemiten und zeigt, dass unser Rechtsstaat leider dem Anspruch unserer gemeinsamen Resolution nicht genügt, konsequent gegen jeden Antisemitismus vorzugehen. Unverhohlener Hass und massive Hetze treten immer wieder zutage. Der Antisemitismus wird offen und aggressiv geäußert und schlägt in konkrete Gewalt um. Es kam am Wochenende zu Übergriffen auf vermeintlich jüdische Pressevertreterinnen und Pressevertreter nicht nur am Rande der pro-palästinensischen Demonstrationen, bei denen Hamas-Flaggen geschwenkt wurden und zur Vernichtung Israels aufgerufen wurde, sondern auch am Sonntagnachmittag, nach dem Aufstiegsspiel von Dynamo Dresden. Unter den Rufen „Judenpresse“ wurde ein noch minderjähriger Journalist bei einem gezielten Angriff schwer verletzt. Und in Lichtenberg wurde der Gedenkstein für die zerstörte Synagoge geschändet. Das können und werden wir nicht hinnehmen.
An Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, wurde 2019 die Synagoge in Halle mit der Absicht angegriffen, Dutzende Betende zu ermorden. Im Anschluss daran gab es sehr viel Betroffenheit, aber nur wenig Verständnis. Geändert hat sich seitdem wenig. Gestern konnte offenbar ein Anschlag auf eine Synagoge in Bremen glücklicherweise verhindert werden. Diesmal kommt die antisemitische Bedrohung nicht aus dem extrem rechten Milieu, aber es zeigen sich Parallelen. Der Hass auf die Moderne, verschwörungsideologische Erzählungen, die Jüdinnen und Juden als strippenziehende Allmacht herbeifantasieren, Shoah-Relativierung bis zur Leugnung und das Ziel einer homogenen Gesellschaft, das verbindende Element islamistischer und extrem rechter Ideologie, ist die jüdische Weltverschwörung, die als Antwort konkrete Gewalt bis hin zur Vernichtung rechtfertigt. Diese Gewalt tritt auch dann zutage, wenn Israel das Existenzrecht abgesprochen oder auf den Straßen Berlins die Bombardierung Tel Avivs gefordert wird.
Wer allerdings nun zum Antisemitismus von rechts schweigt und sich nur auf Migrantinnen und Migranten konzentriert, hat weder die Gefahr durch die extreme Rechte noch durch Islamistinnen und Islamisten verstanden.
Gewalt und Terror gegen Jüdinnen und Juden sind zu einer konkreten Bedrohung geworden. Diese Drohung vereint die extreme Rechte wie den islamistischen Antisemitismus.
Ich möchte mich an dieser Stelle recht herzlich bei allen zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, die mit ihrem Engagement unentwegt gegen Antisemitismus kämpfen, bedanken. Besonderer Dank geht an dieser Stelle dem jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus, der Amadeu-Antonio-Stiftung, deren Vorsitzende ebenfalls immer wieder antisemitischen Hetzkampagnen ausgesetzt ist, und der Opferberatung OFEK, die auch über die Feiertage ihre Beratungsangebote aufrechterhalten hat, damit die Betroffenen nicht alleine gelassen werden. – Herzlichen Dank!
Für uns bleibt es dabei: Wir kämpfen gegen jeden Antisemitismus, und das Existenzrecht Israels ist für uns nicht verhandelbar. Ich habe der jüdischen Gemeinde im Namen meiner Fraktion unsere volle Unterstützung zugesagt. Wir sind erschüttert, aber wir sind nicht wehrlos. Mit der Förderung von Sichtbarkeit von jüdischem Leben, mit Prävention und Aufklärung, aber natürlich auch mit Repressionen werden wir jedem Antisemitismus entschlossen entgegentreten. – Vielen Dank!