Es ist unsere Pflicht, für ein friedliches und menschliches Miteinander, vor allem aber für den Schutz von jüdischem Leben einzustehen
Rede von Anne Helm, Vorsitzende der Fraktion Die Linke, anlässlich der Regierungserklärung zum Thema „Berlin hält zusammen – Gemeinsam für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus“ am 19.10.2023
Sehr geehrte Frau Präsidentin, Exzellenz Prosor, geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Berlinerinnen und Berliner,
Uns allen haben sich wahrscheinlich die entsetzlichen Bilder und Berichte ins Gedächtnis gebrannt, die uns seit dem frühen Morgen des 7.Oktobers aus Israel erreicht haben.
Die gezielte Ermordung von Jüdinnen und Juden. Die Vergewaltigung von Frauen, das Köpfen von Kindern und die Verschleppung hunderter Menschen als Geisel – allein, weil sie Jüdinnen und Juden sind ist ein barbarischer Gewaltakt.
Dafür gibt es keine Rechtfertigung und keine Kontextualisierung, die das erklärbar machen würden. Es ist ein abscheuliches Verbrechen.
Berlin trägt als die Stadt, von der aus die Shoah geplant und durchgeführt wurde, eine besondere Verantwortung. Wir sind dankbar, dass zu Berlin heute wieder ein vielfältiges religiöses, säkulares und kulturelles jüdisches Leben gehört. Und es gehört zum Selbstverständnis unserer Stadt, dass heute Menschen aus aller Welt, die vor Vertreibung, Krieg und Unterdrückung geflohen sind, hier zu Hause sind.
Gerade deshalb ist es unsere Pflicht, für ein friedliches und menschliches Miteinander, vor allem aber für den Schutz von jüdischen Einrichtungen und jüdischem Leben einzustehen.
In diesem Sinne wäre es sehr wichtig gewesen, dass die demokratischen Fraktionen heute ein gemeinsames Zeichen gegen Antisemitismus und Terror setzen und Parteidifferenzen dahinter zurückstehen. Es ist äußerst bedauerlich, dass die CDU Fraktion sich dazu nicht durchringen konnte, obwohl wir schon lange im Bereich der Antisemitismusprävention über die Fraktionsgrenzen hinweg zusammenarbeiten und der Regierende hier zurecht die gemeinsamen Aufgaben betont hat. Die Dringlichkeit, in dieser Situation zusammen zu stehen, hat auch das gemeinsame Gespräch heute Morgen mit den jüdischen Vertreterinnen und Vertretern unserer Stadt gezeigt.
Meine Damen und Herren,
Mehr als 1300 Menschen wurden bei der Terroroffensive ermordet. Unterschiedslos von Säuglingen bis Holocaust-Überlebenden. Es war der verheerendste Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah und bedeutet einen tiefen Einschnitt in der israelischen Geschichte, aber auch für Jüdinnen und Juden weltweit. Zumal die Hamas und inzwischen auch die Hisbollah international zu antisemitischem Terror aufgerufen haben.
Ziemlich genau drei Jahre nach dem versuchten rechtsradikalen Massaker in der Synagoge in Halle blieben in Berlin aus Angst Synagogen leer, jüdische Kinder konnten die Schule nicht besuchen, Restaurants nicht öffnen und Makkabi Berlin nicht spielen.
In der Nacht zu gestern gab es einen Brandanschlag auf die jüdische Gemeinde in der Brunnenstraße. Wohnungen und Häuser, in denen Jüdinnen und Juden leben, werden markiert.
Das ist unerträglich! Und es ist absolut unbegreiflich und nicht zu tolerieren, wenn dieser Terror als Widerstandskampf verharmlost oder gar glorifiziert wird!
Das erklärte Ziel der Hamas ist die Zerstörung Israels und die Errichtung einer islamistischen Diktatur in Palästina. Unterstützt wird sie dabei von dem iranischen Regime, das mit brutaler Gewalt gegen die feministisch geführte Revolution im Iran vorgeht.
Die palästinensische Bevölkerung gilt seit 1948 den umliegenden Regimen als veritables Faustpfand, wenn sie Gründe benötigen, Stimmung gegen Juden und Israel zu machen. Syrien, Jordanien, Libanon und Ägypten geben den meisten Palästinenser*innen auch in der 5. Generation keine Chance auf die jeweilige Staatsbürgerschaft, weil der Rückkehrwille lebendig gehalten werden muss.
Wir werden hier den Nahost-Konflikt und seine vielen Facetten nicht lösen können. Aber wir sind uns hoffentlich einig, dass die ägyptische Regierung endlich die Grenze öffnen muss, um der Zivilbevölkerung die Möglichkeit zur Flucht zu geben. Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass die Zivilbevölkerung nicht zwischen IDF und Hamas zerrieben wird. Es droht sonst eine humanitäre Katastrophe.
So wie Israel das völkerrechtlich verbriefte Recht auf Selbstverteidigung gegen den Terror der Hamas hat, haben die Menschen in Gaza das völkerrechtlich verbriefte Recht auf medizinische Versorgung und die Versorgung mit Wasser und Nahrung. Deshalb ist es richtig, dass Israel jetzt einen Versorgungskorridor mit Ägypten aushandelt.
Finanziert wird die Hamas besonders von zwei Seiten, dem iranischen Mullah-Regime und dem Emir von Katar. Letzterer ist seit letztem Jahr ein gern gesehener Geschäftspartner der deutschen Bundesregierung. Entsprechend sollten Kanzler Scholz und Außenministerin Baerbock dringend der Staatsräson dadurch Ausdruck verleihen, dass sie ihren Einfluss ihm gegenüber geltend machen. Deutschlands Energiesicherheit darf weder vom russischen Möchtegern-Zaren noch von antisemitischen Terrorfinanciers abhängig sein.
Über 1.300 Menschen mussten sterben, vermutlich weil die Hamas die diplomatische Annäherung zwischen Israel und der Arabischen Liga unterminieren will. Sollte dieser Prozess nämlich erfolgreich sein, müsste sich Hamas in Gaza fragen, warum sie weiterhin den Großteil der Mittel für die öffentliche Infrastruktur in eine Terrorkampagne fließen lassen, die nicht einmal mehr Unterstützung in den anderen arabischen Staaten genießt. Hamas würde dadurch vollständig abhängig von der Unterstützung aus Teheran.
Ich weiß noch, wie ich im vergangenen Jahr mit tausenden anderen gemeinsam in Solidarität mit der feministischen Revolution im Iran am großen Stern demonstriert habe. Wir riefen “Jin Jiyan Azadi!” (Frauen, Leben, Freiheit!). Das war ein starkes Zeichen, das internationalen Widerhall fand und auch die Frauen im Iran erreichte.
Wer Jin! Jiyan! Azadi! gerufen hat, kann jetzt nicht “Yalla Intifada!” rufen. Hamas und Hizbollah dienen demselben verbrecherischen Mullahregime, das die Frauen im Iran unterdrückt. Und deren Weltbild und Ideologie unterscheiden sich nur optisch vom völkisch-patriarchalen Weltbild, das hierzulande von Rechts propagiert wird.
Die perfide Strategie der Hamas besteht darin, die Menschen, die in Gaza leben und deren Angehörige überall in der Welt als Geiseln zu nehmen. Die einen wortwörtlich, die anderen emotional in ihrer Sorge um Familie und Freunde, in ihrer Verzweiflung, nichts an der Situation ändern zu können, in ihrer Frustration, die leider viel zu oft in Wut und Hass umschlägt. Diese Wut und dieser Hass sind es, denen wir die Grundlage entziehen müssen und das können wir nicht, indem wir drangsalieren und diskriminieren.
Trauer, Sorgen und Wut über den Verlust von Angehörigen müssen in unserer Gesellschaft besprechbar sein. Sonst haben die Propagandisten leichtes Spiel. Wozu das führt, sehen wir an der medialen Diskussion über die vermeintliche Bombardierung eines Krankenhauses mit angeblich Hunderten Toten. Ich will mir nicht ausmalen, wie es sich für Menschen anfühlen muss, die Angehörige vor Ort haben, ohne die Möglichkeit zu fliehen. Ihre tiefsten Ängste werden hier zum Propagandainstrument gemacht. Dem kann nur durch Empathie, Besonnenheit und Aufklärung begegnet werden.
Für ein friedliches Miteinander in Berlin sollten wir keine Pauschalisierungen vornehmen. Es ist keine Lösung, das Tragen einer Kufiya (dem sogenannten Palästinensertuch) und alle palästinensischen Symbole an Schulen zu verbieten und die Lehrerinnen und Lehrer mit der Durchsetzung und den damit einhergehenden Konflikten alleine zu lassen.
Pauschale Verbote fördern Sprach- und Hilflosigkeit und sind deshalb kontraproduktiv. Stattdessen brauchen wir sofort eine Offensive von Bildungs- und Dialogangeboten. Wir haben dafür versierte und engagierte Partnerinnen und Partner in Berlin.
Ausgerechnet diese sollten ja laut Senatsentwurf von empfindlichen Kürzungen betroffen sein. Ich habe gestern lange mit der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus gesprochen. Sie sind bereit, in dieser Krisensituation alles zu tun, um dazu beizutragen, den gesellschaftlichen Frieden in Berlin zu schützen. Sie sind spezialisiert auf Dialogformate mit jungen Menschen, mit migrantischen Communities und Menschen, die unterschiedliche persönliche Zugänge zu diesem Konflikt haben. Dafür können wir sehr dankbar sein. Unsere Pflicht ist es, ihnen dafür alle notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Lassen Sie uns jetzt gemeinsam eine Offensive für Antisemitismusprävention und politische Bildung starten und diese auch im Haushalt absichern!
Ich bezweifle auch, dass es jetzt das Gebot der Stunde ist, schnell eine Studie in Auftrag zu geben. Es arbeiten und forschen viele in dieser Stadt seit Jahren kontinuierlich zu den unterschiedlichen Formen von Antisemitismus. Wir haben kein Erkenntnisproblem.
Die Recherche und Informationsstelle Antisemitismus leistet hervorragende Arbeit in der Dokumentation und Einordnung antisemitischer Vorfälle und stellt uns dadurch Erkenntnisse zur Verfügung die die Kriminalstatistik nicht leistet. Es muss jetzt darum gehen, ihre Arbeit dauerhaft abzusichern.
Pauschale Verbote von pro-palästinensischen Demonstrationen sind für ein friedliches Zusammenleben auch keine Lösung.
Wenn Sie mir an dieser Stelle nicht zuhören wollen, dann vielleicht zumindest Ihrem Parteifreund Innenminister Reul aus NRW. Er sagt: Ein Verbot von pro-palästinensischen Demonstrationen in Deutschland sei "juristisch ungeheuer schwierig". Das Recht der freien Meinungsäußerung sei ein hohes Gut in Deutschland. Selbst wenn es die "schrägste, verrückteste und bekloppteste Meinung" sei, könnten Menschen an ihren Äußerungen nur gehindert werden, wenn damit die öffentliche Sicherheit oder andere Menschen gefährdet würden.
Genau das ist die Trennlinie: Das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen, die Hamas oder die Hizbollah unterstützen oder deren Taten zu begrüßen, ist keine schräge, verrückte oder bekloppte Meinung, sondern gefährdet die öffentliche Sicherheit und gehört damit unterbunden. Wenn auf der Sonnenallee Hassparolen skandiert werden, wenn Gewalt angedroht oder sogar angewendet wird, muss die Polizei selbstverständlich einschreiten.
Wenn sich Menschen aber treffen, um Anteilnahme und Sorge über die Bevölkerung eines Kriegsgebietes auszudrücken und für Frieden demonstrieren, muss die Berliner Polizei das ermöglichen und gegebenenfalls absichern. Die Differenzierung mag im Einsatzgeschehen nicht immer leicht sein, ist aber unabdingbar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
In dieser Zeit müssen wir uns alle fragen, was wir dazu beitragen können, den gesellschaftlichen Frieden zu schützen und zu verhindern, dass Hasspropaganda erfolgreich ist.
Und wenn mein langjähriger Genosse, der jüdische Sozialist Andrej Hermlin seinen Platz nicht mehr in unserer Mitte sieht, dann muss das meine Partei zum Nachdenken bringen.
Und wir alle müssen reflektieren, wie tief antijudaistische Klischees in unserer Gesellschaft verankert sind, dass sie von prominenten "Intellektuellen" im öffentlich-rechtlichen Rundfunk verbreitet werden. Und wie anschlussfähig antisemitische Verschwörungsmythen und Geschichtsrevisionismus gerade in Krisenzeiten sind.
Antisemitismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Die Mitte-Studie hat ergeben, dass sich der Anteil der Bevölkerung mit verfestigter antisemitischer Einstellung innerhalb von zwei Jahren vervierfacht hat. Das zeigt sich auch nicht zuletzt an den jüngsten Wahlerfolgen einer rechtsextremen Partei, die jüdische Religionsausübung wie Schächtung oder Beschneidung verbieten will, die Geschichtsrevisionismus und antisemitische Verschwörungsideologien verbreitet und in Bezug auf das Gedenken an die Opfer der Shoah von Schuldkult schwadroniert.
Und genau die reden jetzt von importiertem Antisemitismus.
Deutschland bleibt historisch der unangefochtene Exportweltmeister für Antisemitismus.
Meine Damen und Herren,
Viele Berliner*innen bangen immer noch um Angehörige oder trauern um Ermordete. Ihnen allen gilt unser Mitgefühl und unsere Empathie. Es ist unsere Aufgabe, ihnen Trost zu bieten und den gesellschaftlichen Frieden in Berlin zu behüten.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Terrorpropaganda der Hamas auch in Berlin Früchte trägt und unsere Stadt mit Angst, Hass und Spaltung überzieht.
Ich schließe mit dem frommen Wunsch: Shalom Alechem, Salam Aleikum, Frieden für alle.