Gesundheit der Berlinerinnen und Berliner schützen
"Unsere Ziele sind, die Gesundheit der Berliner und Berlinerinnen so weit als möglich zu schützen und eine Überlastung unseres neoliberal effizient getrimmten Gesundheitssystems zu verhindern, noch immer. Deshalb müssen wir, bis es eine effektive medizinische Intervention in Form eines Medikaments oder einer Impfung gibt, lernen, mit diesem Virus zu leben und es gleichzeitig in Schach zu halten. Das gelingt aber nur mit den Berlinerinnen und Berlinern.", sagt Carsten Schatz.
58. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 30. April 2020
Zu Aktuelle Stunde "Wie wir die Coronakrise meistern: Existenzängste und Gesundheitsschutz ernst nehmen, verantwortungsvoll handeln" (auf Antrag der Fraktion der CDU)
Carsten Schatz (LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Meine Damen und Herren! Ich hatte gestern eigentlich vor, eine Flasche Desinfektionsmittel für Sie mitzubringen, Herr Hansel, nach den Äußerungen Ihres Fraktionsvorsitzenden bei der vorletzten Plenardebatte zu Corona, dass wir in die USA schauen sollen, da würde alles richtig gemacht. Ich will aber noch hinzufügen: Ich habe mich gegen die Flasche Desinfektionsmittel entschieden, falls Sie sich dann selbst welche besorgen, bitte wenden Sie das richtig an. Herr Trump hat dazu komische Bemerkungen gemacht, falls Sie dem Glauben schenken sollten.
Die Zahlen des Robert-Koch-Instituts für heute, Null Uhr, sprechen in Berlin von 5 827 Erkrankten, von denen etwa 4 800 bereits wieder genesen sind. 147 mit coronainfizierte Berliner und Berlinerinnen sind verstorben. Die Stadt hat mithin 880 aktive Erkrankte, von denen, Stand gestern, 604 in einem Krankenhaus behandelt werden, davon 157 intensivmedizinisch. Der Rest befindet sich in häuslicher Quarantäne. Das Robert-Koch-Institut gab in seinem gestrigen Lagebericht die Reproduktionsrate, rt, für Deutschland mit 0,75 an, das heißt, ein Erkrankter steckte weniger als einen Menschen mit Corona an und das auf einem Niveau von täglich im Schnitt 63 Neumeldungen von Erkrankungen in Berlin in der letzten Woche und in dieser Woche bislang 57. Zum Vergleich: Diese Zahlen lagen noch vor wenigen Wochen, in der 13. Kalenderwoche, bei 191 Neumeldungen und bei 179 in der 14. Kalenderwoche. Ich finde, die Zahlen sprechen dafür, dass einiges richtig gemacht wurde in Berlin.
Im Gegensatz zu mancher Wahrnehmung haben wir in Berlin sehr früh Maßnahmen ergriffen. Es wurden große Säle der staatlichen Theater geschlossen, als erstes, da hatte Berlin eine Fallzahl von 48 an Covid-19-Erkrankten, allerdings eine Verdopplungsrate von zwei bis drei Tagen. Momentan liegen wir bei fast 30 Tagen. Es wurden schnell Cafés, Bars und Clubs geschlossen. Eine Woche später, nach Verständigung zwischen Bund und Ländern, wurde eine Ausgangsbeschränkung verfügt, die inzwischen durch eine Entscheidung des Senats, Kollege Fresdorf, in eine Kontaktbeschränkung umgewandelt wurde, zu Recht, wie ich finde.
Es spricht für den Senat, dass er in der Lage ist, sich zu korrigieren und Grundrechtseingriffe der Lage anzupassen, bevor es, wie im Saarland geschehen, ein Verfassungsgericht tun muss.
Schon jetzt sehen wir die Folge der Einschränkung deutlich. Die Frisuren mögen für manche hier im Saal wichtig sein, für mich nicht so. Ich meine die Fälle häuslicher Gewalt, die wir an steigenden Einsatzzahlen der Berliner Polizei sehen, die Zunahmen von Depressionen und Alkoholmissbrauch. Da rede ich nicht über das Eierlikörchen, damit das Leben schon weitergeht, sondern über Menschen, die sich keinen anderen Ausweg aus der Isolation wissen, als zur Flasche zu greifen, wo oft ein beruhigendes Wort fehlt, weil die Menschen jetzt allein konsumieren. Wir sind eben auch die Stadt des Singles und der
Alleinlebenden, die momentan maximal eine weitere Person treffen können. Einsamkeit, das wissen vielleicht einige hier, hat dramatische Folgen, Folgen, die wir in den Blick nehmen müssen, wenn wir über Existenzängste und Gesundheitsschutz in Berlin reden.
Dennoch muss klar sein: Unsere Ziele sind, die Gesundheit der Berliner und Berlinerinnen so weit als möglich zu schützen und eine Überlastung unseres neoliberal effizient getrimmten Gesundheitssystems zu verhindern, noch immer. Deshalb müssen wir, bis es eine effektive medizinische Intervention in Form eines Medikaments oder einer Impfung gibt, lernen, mit diesem Virus zu leben und es gleichzeitig in Schach zu halten. Das gelingt aber nur mit den Berlinerinnen und Berlinern. Jede Regelung, die sich die Bundesregierung, der Senat oder wir als Parlament ausdenken, wird nur umsetzbar sein, wenn die Menschen diese für nachvollziehbar halten. Nur mit Überzeugung und nicht mit Verboten oder Verpflichtungen lassen sich Regeln über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten.
Die einfachen Hygieneregeln, die einfachen Regeln, Abstand halten, die Zahl der Kontakte klein und überschaubar halten, Hygieneregeln einzuhalten, auch regelmäßiges Händewaschen gehört dazu, damit haben wir einen Kanon an Regeln, die wir als Bürger und Bürgerinnen und als Staat in unser Leben integrieren können und müssen, egal in welchem Setting. Besonderes Augenmerk muss dabei den Risikogruppen gelten, bei denen eine Erkrankung schwer oder gar tödlich verläuft. Auch die müssen wir nicht paternalistisch bevormunden. sondern einbeziehen, wenn wir über Schutzkonzepte reden. Ich finde, es kann nicht sein, dass Menschen, die über 80 sind und die dieses Land unter großen Entbehrungen aufgebaut haben, heute Angst haben müssen, faktisch vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu werden.
Wenn ich einen Artikel lese, dass in einer Senioreneinrichtung kein Besuch mehr möglich ist und Bewohner und Bewohnerinnen darunter leiden und deshalb sogar über Sterben nachdenken, müssen wir fragen, was wir tun können, um ihnen diese Angst zu nehmen.
Das heißt, es geht nicht nur um das individuelle Verhalten von uns allen und staatliches Agieren als Betreiber von Einrichtungen, sondern es geht auch darum, was Menschen brauchen, um ihre Gesundheit zu schützen, um richtige Entscheidungen für sich treffen zu können. Da kommt wieder der Staat ins Spiel, mit genau dem, was dieser Senat sehr schnell gemacht hat, als er die Soforthilfepakete I bis V auf den Weg gebracht hat. Es liegt doch auf der Hand. Wer kann sich über seine Gesundheit und die Veränderungen im täglichen Handeln Gedanken machen, wenn sie nicht weiß, wie die Miete im nächsten Monat bezahlt oder was für die Kids zu Essen auf den Tisch kommt. Deshalb war die schnelle und unbürokratische Hilfe des Senats an dieser Stelle richtig. Deshalb ist es auch richtig, dass die Koalition gemeinsam mit der FDP – hört, hört! – über eine Bundesratsinitiative nachdenkt, das Kurzarbeitergeld, das gerade bei Geringverdienenden nicht hinten und vorne reicht, deutlich zu erhöhen.
Das ist der zweite wesentliche Aspekt neben den individuellen Verhaltensänderungen, die wir erreichen müssen: die Frage nach der Sicherung von Strukturen, die Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben und ihr Verhalten tatsächlich zu ändern. Man kann das auch Solidarität nennen. Und ja, da geht es auch um Perspektiven für Menschen, die zum Beispiel in der Gastronomie arbeiten, oder kleine Dienstleister, die sich selber um ihren Lebensunterhalt bemühen wollen und es können sollen, soweit es mit den Regeln zu vereinbaren ist.
Lassen Sie mich auch das anmerken: Was für die Strukturen im Kleinen gilt, gilt erst recht im Großen. Es ist richtig, dass sich die Senatoren Lederer und Kollatz für Corona-Bonds ausgesprochen haben, denn wenn das Haus brennt, ist es Unsinn, den Brand in der Wohnung zu löschen, aber Treppenhaus und andere Wohnungen zu ignorieren. Ein Virus kennt keine Grenzen.
Das gilt auch für das Leid der Geflüchteten in den überfüllten griechischen Lagern. Moria sei hier erwähnt. Das darf uns nicht kaltlassen. Ein Lager, ausgerichtet auf ein paar tausend Menschen, jetzt belegt mit 25 000 Menschen, ist eine Katastrophe in den Zeiten von Corona.
Das Beispiel Singapur mit einem dramatischen Ausbruch in den überfüllten Wohnheimen der Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter sei uns Mahnung. Es ist gut, dass das Land Berlin sich dafür einsetzt, wenigstens unbegleitete minderjährige Geflüchtete aus diesem Elend in Griechenland zu holen.
Letzter Punkt: Wir müssen alles tun, was einem Track & Trace von Erkrankten dient. Wir müssen sie finden und ihre Kontaktketten zurückverfolgen können. Containment nennt sich das. Dafür brauchen wir das Personal in den Gesundheitsämtern. Das haben wir sogar in Berlin über das geforderte Maß von fünf Menschen pro 20 000 Einwohner und Einwohnerinnen hinaus. Aber wir müssen dieses Niveau halten, auch wenn jetzt andere Bereiche der öffentlichen Verwaltung wieder langsam hochgefahren werden. Dafür brauchen wir Personal und Ressourcen, über die wir hier reden und entscheiden werden müssen.
Dazu kommt eine ausgefeiltere Teststrategie und das Hochfahren der Testzahlen. Wenn im gestrigen RKI-Bericht steht, dass Deutschland eine Testkapazität von 861 000 Tests pro Woche hat, aber nur 470 000 in der Kalenderwoche gemacht hat, dann frage ich, warum. Ich finde, hier ist Ihr Gesundheitsminister gefragt, diese Kapazitäten auszunutzen und das hochzufahren, denn es ist doch Unsinn, jetzt in der Öffentlichkeit über einen Immunitätspass zu reden und damit Anreize zu setzen, dass Menschen in unserer Gesellschaft eventuell ihre Quarantäne sozusagen dafür nutzen, um noch mit Ansteckung anderer Geld zu verdienen, weil es ja dann sinnvoll ist, einen solchen Pass in der Hand zu haben. Ich habe das ja durchgemacht. Das ist der größte präventionistische Schwachsinn, den sich der Bundesgesundheitsminister da ausgedacht hat.
Auch hier in Berlin müssen wir die Ressourcen in die vorhandenen Kapazitäten bei Testangeboten lenken – für Pflegeeinrichtungen, in den Krankenhäusern, in Seniorenresidenzen. Ein täglicher Test des Personals, auch gepoolt, hätte vielleicht einen Ausbruch wie in der Lichtenberger Seniorenresidenz verhindern können. Zu diesem dritten Punkt zählt auch, dass wir alles unternehmen müssen, um einem weiterhin möglichen stärkeren Ausbruch gewappnet gegenüberzustehen. Deshalb war die Entscheidung für das Behandlungszentrum in der Jaffé-straße, wo wir alle hoffen, dass wir es nie brauchen, richtig.
Doch mit diesen neuen Kapazitäten sollten wir dann auch darüber nachdenken, die Behandlung von Menschen, die eine Chemotherapie oder eine notwendige Operation erwarten, besser zu ermöglichen als jetzt. Auch das gehört zum Gesundheitsschutz und kann auch unseren Krankenhäusern in dieser Zeit wirtschaftlich helfen.
Das ist alles nicht neu: Verhaltensänderungen, Verhältnisse dazu in den Blick zu nehmen, und entschlossenes staatliches Handeln in Versorgung und Diagnose, das sind Bestandteile eines Konzepts, dass sich strukturelle Prävention nennt und gegen ein Virus entwickelt wurde, das vor 40 Jahren die Welt erschreckte und veränderte. HIV – für die Älteren! Es fußt übrigens auf der Ottawa-Charta der WHO, und ich empfehle allen, noch mal die Definition von Gesundheit dort nachzulesen. Ich weiß, dass es vielen als Zumutung erscheint, wenn ich sage, dass wir lernen müssen, auf absehbare Zeit mit dem Virus zu leben. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es nicht leicht ist, aber es geht. Letztlich haben wir auch keine andere Wahl, wenn wir unsere freiheitliche, offene, humane und solidarische Gesellschaft bewahren wollen, denn solidarisch ist man nicht alleine. Das ist das Motto des 1. Mai 2020, der morgen begangen wird. – Vielen Dank! – Und im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Fraktion hier rechts außen zur Erhellung der dunklen Finanzquellen ihrer Partei beitragen sollte.