60 Jahre Römische Verträge: Berlin setzt sich für ein demokratisches, soziales und ökologisches Europa ein

Carsten Schatz

Die Fraktionen der SPD, der GRÜNEN und die Linksfraktion haben aus Anlass des Europatages für die heutige Sitzung beantragt, eine Aktuelle Stunde zur Lage in der Europäischen Union und zur Berliner Politik in Europa zu führen, übrigens so wie wir es in unserem Koalitionsvertrag angekündigt haben.

Rede als Video

Aus dem Vorabwortprotokoll

10. Sitzung, 4. Mai 2017

Aktuelle Stunde

60 Jahre Römische Verträge: Berlin setzt sich für ein demokratisches, soziales und ökologisches Europa ein“

(auf Antrag der Fraktion Die Linke)

in Verbindung mit

lfd. Nr. 34:

60 Jahre Römische Verträge – Berlin baut weiter mit an unserem gemeinsamen europäischen Haus

Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Annahme einer Entschließung
Drucksache 18/0304


Carsten Schatz (LINKE):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Morgen, am 5. Mai, begehen wir den Europatag, der an die Gründung des Europarates 1949 erinnert, in fünf Tagen, am 9. Mai, den Europatag der Europäischen Union, der an die Rede Robert Schumans 1950 erinnert, in der er die Initiative von Jean Monnet aufgriff, eine europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Montanunion, zu gründen.

Die Fraktionen der SPD, der GRÜNEN und die Linksfraktion haben aus diesem Anlass für die heutige Sitzung des Berliner Parlaments beantragt, eine Aktuelle Stunde zur Lage in der Europäischen Union und zur Berliner Politik in Europa zu führen, übrigens so wie wir es in unserem Koalitionsvertrag angekündigt haben. Ich finde, daraus sollten wir eine Tradition machen, im nächsten Jahr vielleicht mit einer gemeinsamen Anmeldung aller demokratischen Fraktionen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN]

Denn es gibt viel zu besprechen – nicht nur Gutes, sondern vor allem vieles, das Menschen in der EU von der EU entfremdet, und darüber will ich sprechen. Ich will aber vorwegschicken: Ich mache das, weil wir uns der Tiefe der Krise bewusst sein müssen, um eingreifen zu können, um die europäische Idee und das europäische Projekt zu retten; denn es bleibt ein Projekt des Friedens auf einem Kontinent, der zwei Mal Ausgangspunkt weltweiter Katastrophen war. Dass wir darüber in Berlin reden, in unserer Stadt, in der diese beiden Weltkriege geplant und gestartet wurden, beschreibt die Verantwortung für uns – Verantwortung, nicht zuzuschauen, wenn dieses Projekt bedroht ist.

[Holger Krestel (FDP): Geschichtsunterricht?]

Bedroht ist es aus meiner Sicht aber nicht nur von Rechtspopulisten, die zurück zum Nationalstaat des 19. Jahrhunderts wollen, sondern auch von Neoliberalen, die „Wettbewerb“ rufen und Sekt öffnen, wenn Dividenden steigen, weil Löhne durch Unternehmensverlagerungen gedrückt werden konnten und Unternehmenssteuern durch ruinösen Wettbewerb in legale EU-Steueroasen vermint werden konnten.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN]

Deshalb sage ich: Wer will, dass die EU so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.

Für mich ist eines der Probleme nach wie vor die Ignoranz gegenüber der noch immer steigenden Anzahl von Toten im Mittelmeer. Seit Januar 2014, also allein in den letzten drei Jahren, sind ca. 20 000 Menschen auf der zentralen Mittelmeerroute, die von Nordafrika nach Italien führt, ertrunken. Was ist die Reaktion der EU? – Nein, nicht etwa eine Initiative für einen gerechten Welthandel, die die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der Geflüchteten verbessert. Nein, nicht etwa ein Verbot von Rüstungsexporten, besonders in Kriegsgebiete, um bewaffnete Konflikte, die Tot, Leid und Flucht verursachen, trockenzulegen. Nein, nicht etwa engagierte politische Initiativen gegen Menschenrechtsverletzungen in den Ländern des Nahen Ostens. Nein, – ich könnte das jetzt fortsetzen – das ist es alles nicht. Es ist der Ausbau der Grenzschutzagentur, die Errichtung von Zäunen mit Stacheldraht, der Kampf gegen Schlepper, als ob sie das Problem wären.

[Lachen von Georg Pazderski (AfD)]

Es sind Diskussionen von Pull-Faktoren, also Klartext: Seenotrettung heißt Fluchthilfe, wie es Rechtspopulisten und Nazis in allen europäischen Ländern mittlerweile formulieren.

Gerade wir in Berlin wissen, Mauern und Stacheldraht – übrigens auch ein Schießbefehl – können Menschen, die ihre Lage verbessern wollen, die in Frieden und Freiheit leben wollen, nicht aufhalten. Deshalb dürfen wir nicht zum Sterben im Mittelmeer schweigen. Wir müssen darüber reden und Veränderungen einfordern.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN]

Die EU hat ein Problem mit Solidarität. Ich nenne ein Beispiel: Deutschland hat die Solidarität mit Griechenland in der Eurokrise aufgekündigt. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Erst gestern las ich wieder, die griechische Regierung und die Institutionen hätten sich einmal wieder geeinigt über die Auszahlung einer neuen Tranche von Hilfen für Griechenland. Wie immer stand in dem Artikel, das Bundesfinanzministerium sei skeptisch – nicht etwa über die Rentenkürzung und die Verringerung von Steuerfreibeträgen, die mit diesem Paket erneut verbunden sind – nein, skeptisch, ob es die griechische Regierung ernst meint. Der Höhepunkt dieser Skepsis war Ende letzten Jahres. Die griechische Regierung hatte alle Vorgaben des ESM erfüllt und wollte aus den Haushaltsüberschüssen, die sie trotzdem hatte, ein Weihnachtsgeld an die Ärmsten in Griechenland zahlen.

[Zuruf von Holger Krestel (FDP)]

Frau Merkel und Herr Schäuble haben ein Affentheater gemacht und gedroht, alle weiteren Hilfen für Griechenland zu streichen. Das muss man sich einmal überlegen: Wie kommt das denn bei den Menschen in Europa an, diese Art von Politik, dass über die kleinsten Gesten derart geschimpft wird, obwohl die Vorgaben zu Primärsaldo und Wachstum des BIP alle erfüllt waren? – Das ist die Austeritätspolitik, die es zu kritisieren gilt, die wir überwinden wollen und über die Sie natürlich nicht reden wollen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN – Zuruf von Kurt Wansner (CDU)]

Der Süden Europas hat in den letzten Jahren nichts anderes als Sozialabbau kennengelernt. Auch in Deutschland haben wir den größten Niedriglohnsektor in Europa und millionenfache prekäre Beschäftigung. Die soziale Säule, über die wir auch in unserem Antrag reden und die wir dringend brauchen in der EU, ist im März letzten Jahres auf den Weg gebracht worden. Es lief ein Konsultationsverfahren, und ich bin froh, dass sich der neue Berliner Senat unmittelbar nach Amtsantritt noch an der Konsultation beteiligt hat. Als wichtige Metropole in der Mitte Europas müssen wir die Erfahrungen mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und ihren sozialen Folgen unbedingt einbringen. Wir müssen darauf drängen, mehr als einige Prinzipien festzuhalten und folgenlose Empfehlungen aufzustellen. Wir brauchen verbindliche Regelungen für Renten, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung, also das, was wir hier als ein bewährtes System der sozialen Sicherheit schätzen. Wir brauchen dabei nicht weniger Einfluss von Gewerkschaften und Betriebsräten, sondern mehr,

[Ronald Gläser (AfD): Noch mehr?]

und dafür werden wir uns einsetzen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN]

Die Intransparenz der EU ist nicht erst in den Verhandlungen zu TTIP und CETA deutlich geworden. Die Ergebnisse dieser Verhandlungen sind bekannt, die Positionierung der rot-rot-grünen Koalition in Berlin dazu auch.

Ein Stichwort zum Wort „Demokratie“: Viele sagen, die EU ist undemokratisch. Ich finde, auch dazu kann man nicht schweigen. In der EU interessiert man sich weder für nationale Parlamente noch für das Europäische Parlament. Ein Beispiel dafür: Als Erdogan begann, die Türkei von einer Demokratie zu einer Despotie und zu einer Diktatur entwickelt, hat das Europäische Parlament beschlossen, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen. Was sagt die Kanzlerin? – Nein, wir verhandeln weiter. Vielleicht machen wir kein neues Kapitel auf. – Es interessiert sie einfach nicht. Das bekommen die Europäerinnen und Europäer doch mit. Ich finde, dieses Beispiel spricht dafür, dass Parlamente ignoriert werden. Das ist kein Zeichen von Demokratie. Ich weiß, das ist harter Tobak für viele – unsozial, undemokratisch, inhuman, unökologisch, intransparent. Dies alles gilt es zu ändern, und dafür werden wir als LINKE in der rot-rot-grünen Koalition streiten.

Wir wollen, dass die EU bleibt. Deshalb müssen wir sie den Regierungen und dem großen Geld wegnehmen und den Menschen in Europa zurückgeben. Dazu gehören ein Parlament mit einem europäischen Wahlrecht, weniger Einfluss der nationalen Regierungen und ein Ausbau der europäischen Volksgesetzgebung wie zum Beispiel der europäischen Bürgerinitiative.

Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede zwei Sätze an die Französinnen und Franzosen in unserer Stadt richten, die am Sonntag aufgerufen sind, in einer Stichwahl über die Nachfolge von François Hollande zu entscheiden!

[Kurt Wansner (CDU): Darauf können sie verzichten!]

– Das lassen Sie einmal die Leute selbst entscheiden! – Ich werde das auf Französisch tun: L’avenir est devant nous, pas d’arrière. Si nous voulons avoir la chance de changer l’Union Européenne, nous ensemble – plus social, plus juste, plus démocratique, plus écologique, plus humaine –, je vous en prie: Donnez-nous cette chance et votez contre la candidate du FN – vous pouvez dire fasciste – ni blanc, ni nul, ni abstention!

[Holger Krestel (FDP): Haben Sie Werbung geschaltet? – Gunnar Lindemann (AfD): Wir sind in Deutschland!]

Und für diejenigen, die es nicht verstanden haben: Die Zukunft liegt vor uns, nicht hinter uns.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN]

Wenn wir die Chance haben wollen, die Europäische Union zu ändern, wir alle zusammen – sozialer, gerechter, demokratischer, ökologischer, menschlicher –, dann bitte ich Sie: Geben Sie uns diese Chance, und wählen Sie gegen die Kandidatin des Front National – man kann auch die faschistische Kandidatin sagen –

[Gunnar Lindemann (AfD): Lieber Gott!
Wahlwerbung hier im Parlament!]

nicht ungültig, nicht Enthaltung, sondern wählen Sie! – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN]