Wahlbeteiligung zur Europawahl steigern

EuropaCarsten Schatz

40. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 4. April 2019

Carsten Schatz (LINKE):

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Meine Damen und Herren! Als mich vor wenigen Tagen die Nachricht erreichte, dass die EU die letzte verbliebene Seenotrettungsmission „Sophia“ einstellt, war ich fassungslos. Auf Druck der Salvinis und Seehofers wird der letzte Rest an Seenotrettung aufgegeben, und die Menschen, die sich in Nussschalen auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer machen, werden ihrem Schicksal, oftmals dem sicheren Tod überlassen.

Was hier aufgegeben wird, ist nicht nur irgendein Programm. Nein! Es sind die Grundwerte, für die diese Union einmal zusammengekommen ist: den Schutz der Menschenrechte – hier des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit –, des Friedens und des sozialen Fortschritts. Ich finde, gerade wir aus Berlin, aus der Stadt des Widerspruchs und der Vielfalt, die wir inzwischen geworden sind, dürfen dem nicht schweigend zusehen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Vor diesem Hintergrund will ich auf eine aktuelle Meldung aufmerksam machen: Heute früh ging durch die Medien, dass auf der „Alan Kurdi“, einem Seenotrettungsschiff der Organisation Sea-Eye, 64 Geflüchtete auf­­genommen wurden, 50 weitere werden vermisst. 40 dieser Menschen will Kiel aufnehmen, 24 sind noch offen. Vielleicht kann sich Berlin aufraffen und sagen: Diese 24 Menschen nehmen wir auf,

[Stefan Franz Kerker (AfD): Nehmen Sie die auf!]

damit das Schiff irgendwo in einen Hafen einlaufen kann; diese Menschen finden hier ein sicheres Zuhause.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei den GRÜNEN]

Aber das gerade beschriebene Abrücken von unseren Grundwerten beschreibt den Zustand der Europäischen Union. Die Gründungsidee – niedergeschrieben auf Zigarettenpapier von drei italienischen Antifaschisten im Manifest von Ventotene – des Friedens und des sozialen Fortschritts wird offen infrage gestellt. Auf der einen Seite geschieht das durch die Rechtspopulisten, Rechtsextreme und Neofaschisten, indem diese demokratisch gewählte Institutionen offen angreifen. Rechtsaußen wird in diesem Hause die Abschaffung des Europäischen Parlaments gefordert, obwohl sie selbst dafür kandidieren.

[Stefan Franz Kerker (AfD): Stimmt so nicht!]

Auf der anderen Seite geschieht das durch neoliberale Marktapologeten, die Menschen durch Ausgrenzung von den demokratisch gewählten Institutionen entfremden. Beiden dürfen wir nicht auf den Leim gehen. Wir müssen die Dinge selber in die Hand nehmen und mehr Menschen ermutigen, es ebenso zu tun.

Europa nur solidarisch, sagen wir als Linke, und bauen an einem Europa der sozialen Mindeststandards: von Mindestlöhnen und Arbeitslosenversicherung, einem Europa des Friedens mit dem Verbot von Waffenexporten, um Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen, einem Europa des Klimaschutzes – dieser wird ebenso zur Bekämpfung von Fluchtursachen beitragen, denn wenn es uns nicht gelingt, die Erderwärmung zu stoppen, werden die Meeresspiegel ansteigen und große Küstenregionen dieser Welt unbewohnbar werden –, einem humanistischen Europa der Seenotrettung, der gelingenden Integration und der sicheren Fluchtwege.

Vizepräsidentin Cornelia Seibeld:

Herr Abgeordneter! Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Carsten Schatz (LINKE):

Nein! – Wir bauen an einem Europa, das aus den Solidarity Cities, dem Netzwerk zur sicheren Aufnahme und Integration von Geflüchteten, und aus den Rebel Cities, Städten, die sich gegen Mietwucher, Spekulation mit Wohnraum und Zwangsräumung einsetzen, wächst.

[Beifall bei der LINKEN –
Zuruf von Marc Vallendar (AfD)]

Wir wollen dafür die demokratischen Institutionen schützen. Wir als Linke treten für ein Parlament mit allen Rechten in der EU ein. Wie können wir das, wenn wir beim Beklagen der aktuellen Zustände bleiben? – Wenn wir denen, die die EU und ihre Gründungsidee des Friedens und der Solidarität, der gemeinsamen Kultur, der Völkerverständigung und der Freiheit für ihre Zwecke missbrauchen, das Handwerk legen wollen, müssen wir zur Teilnahme an der Wahl ermutigen. Nur ein starkes und selbstbewusstes Europäisches Parlament kann seine Stimme laut und deutlich erheben.

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN –Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Stärke und Selbstbewusstsein wachsen aber nicht auf einer niedrigen Wahlbeteiligung. Deshalb ist es für uns klar: Wir wollen gemeinsam alles tun, damit möglichst viele Berlinerinnen und Berliner an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen. Wir wollen gerade die Hunderttausenden Berlinerinnen und Berliner zur Teilnahme ermutigen, die aus einem anderen EU-Mit­glieds­staat zu uns gekommen sind. Sie haben noch bis Anfang Mai Zeit, sich in die Berliner Wählendenverzeichnisse eintragen zu lassen. Gemeinsam mit allen anderen demokratischen Fraktionen wollen wir den Senat auffordern, dafür zu sorgen, dass auch für sie diese Information verfügbar ist und sie ihr Wahlrecht nutzen.

Bei aller Kritik an der EU, der Politik ihrer Institutionen und der Mitgliedsstaaten: Wir haben durch Wahlen die Chance, unsere Stimme zu Gehör zu bringen. Sorgen wir Demokratinnen und Demokraten gemeinsam dafür, dass möglichst viele dieses Recht nutzen und das Projekt eines friedlichen, sozialen, solidarischen, ökologischen und humanistischen Europa verteidigen!

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass die Partei hier rechts außen dazu beitragen sollte, die dunklen Geldquellen ihrer Partei zu erhellen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN –
Stefan Franz Kerker (AfD):
Wo sind denn die SED-Millionen hin? –
Tommy Tabor (AfD): Fragen Sie mal
Herr Gregor Gysi nach den Milliarden!]