Nicht zu schnell aus dem Lockdown herauskommen
"Es ist richtig, nicht zu schnell aus dem Lockdown herauszukommen, sondern das behutsam Stück für Stück zu tun und immer zu schauen, wie sich das auswirkt." sagt Carsten Schatz in der Sondersitzung des Abgeordnetenhauses.
73. (Sonder-)Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 14. Februar 2021
Aussprache zu den Ergebnissen der Videoschaltkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 10. Februar 2021 sowie der Sechsten Verordnung zur Änderung der SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung
Carsten Schatz (LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu meinem Vorredner von rechts außen vielleicht nur so viel als Kommentar: Sie haben im Verlaufe dieser Pandemie Ihre Position so oft gewechselt und ich erinnere mich daran, dass man am Anfang der Bundesregierung aus Ihrer Sicht vorgeworfen hat, nicht konsequent genug zu sein. Dann waren Sie die Ersten, man höre und staune, die gefordert haben, die Grenzen wieder zu öffnen, dann wurden wir alle gechippt, dann wurde der Reichstag mit Ihrer Hilfe gestürmt und, und, und –, dass Sie als Ventilator dienen könnten.
Ich gestatte mir auch zwei Bemerkungen zur Rede des Kollegen Dregger: Sie haben aus meiner Sicht sehr richtig von Inkonsequenz gesprochen. Ich will Ihnen eine Frage stellen: Sie haben der Berliner Öffentlichkeit ein Papier vorgelegt – den Titel habe ich vergessen. Es war „Diet Covid“ –, nein: „Light Covid“ oder „Low Covid“; ich weiß es nicht genau – und fordern kurz danach: Wir müssen auf eine Inzidenz unter zehn. Darüber kann man diskutieren. Dann fordern Sie aber wenige Tage danach, die Olympischen Spiele, die vielleicht nicht stattfinden, als nationaler Wettbewerb, als große Massenveranstaltung, in Berlin stattfinden zu lassen. Ich finde, das ist inkonsequent.
Im Übrigen sind nach unserer kursorischen Prüfung die Kontaktbeschränkungen von § 28a Abs. 2 – nein, keine Zwischenfrage – nicht erfasst, aber viel Spaß bei Ihrer parlamentarischen Prüfung dessen.
Ich finde: Ja, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, die Parlamentsbeteiligung wirkt. Ich hoffe darauf und freue mich darüber, dass die CDU das wahrscheinlich auch in andere Landesparlamente und in den Bundestag trägt, da gehört es nämlich auch hin.
Ich möchte noch mal daran erinnern, was wir in den letzten Wochen seit Dezember geschafft haben – das ist hier auch schon angeklungen: Von einer Inzidenz von über 200 noch am 6. Januar sind wir heute bei 59 nach den Berliner Zahlen, 57 nach den Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Bei der Belegung der Intensivbetten: Anfang Januar lag die bei 460 – die Ampel in Berlin war tiefrot. Wenn man jetzt bei DIVI nachschaut sind wir bei 275 belegten Intensivbetten.
Wir haben auch bei den Impfungen Erfolge erzielt: Insgesamt sind in Berlin 196 000 Impfdosen verabreicht worden, davon 128 000 als Erstimpfung – ein Großteil davon bei den Hochaltrigen und Pflegebedürftigen – und 68 000 Zweitimpfungen.
Es gilt, an der Stelle Danke an alle Beteiligten, die daran beteiligt waren, zu sagen. Danke an die Berlinerinnen und Berliner, die durch ihre Disziplin und ihr Beharrungsvermögen dazu beigetragen haben, dass wir bei diesen Zahlen sind.
Besonders danken möchte ich heute aber all den Menschen, die in den Impfzentren und in den mobilen Impfteams tätig sind. Ich finde, es ist sehr berührend zu lesen und zu erfahren, wie zufrieden viele Seniorinnen und Senioren mit der Organisation und mit der Behandlung vor Ort sind. Das ist in unserem Land keineswegs überall so. Dazu muss man nur mal in unser Nachbarland schauen. Ich finde: Ja, da funktioniert mal was in Berlin. Manche mögen das kaum noch glauben, aber ich finde, das ist der Erwähnung wert, und darüber sollten wir uns freuen.
So sind wir sehr froh darüber, dass dieser Tage die zweite Impfung in den Pflegeheimen voraussichtlich abgeschlossen werden wird und dann mindestens 90 Prozent der Bewohnerinnen in den Berliner Pflegeheimen geimpft sind.
Die Wirksamkeit dieser Maßnahme ist bereits jetzt spürbar – nicht nur an der zurückgehenden Zahl schwerer Erkrankungen, auch insgesamt sinkt die Zahl von Infektionen in Alten- und Pflegeheimen von fast 2 000 Anfang Januar auf jetzt knapp 500. Ich hoffe, wir bekommen das mit der nun verbesserten Teststrategie noch besser hin und erreichen damit endlich wichtige Ziele der Pandemiebekämpfung, nämlich den Schutz der Menschen, die durch schwere und tödliche Verläufe der Infektion besonders gefährdet sind, damit die Entlastung unserer Krankenhäuser und vor allem derer, die seit Monaten Tag und Nacht im Einsatz sind.
So wichtig diese Schutzmaßnahmen auch sind, letztlich werden sie nur dann funktionieren, wenn wir die Zahl der Infektionen insgesamt wieder senken. Da ist es jetzt so, dass wir noch nicht wissen, wie sich die Situation angesichts des Auftretens von offenbar ansteckenderen Mutationen entwickeln wird.
Wir wissen aber schon, dass die Zahlen, die wir Ende Januar hatten – 5,7 Prozent – und die Zahl, die uns die Gesundheitssenatorin heute genannt hat – 10 Prozent –, dass das eine Verdopplung ist, und ich finde, damit sollten wir auch umgehen. Ich wiederhole an dieser Stelle meine Position von Donnerstag: Es ist richtig, nicht zu schnell aus dem Lockdown herauszukommen, sondern das behutsam Stück für Stück zu tun und immer zu schauen, wie sich das auswirkt.
Dass wir jetzt Friseursalons ab dem 1. März wieder öffnen, aber nicht auch andere körpernahe Dienstleistungen, ist sicherlich nicht einfach zu erklären. Wenn aber zu den Friseuren Hunderte Nagelstudios und Kosmetiksalons dazukämen, dann wäre das auch ein Stück zu viel, zu schnell. Nicht: Warum die nicht auch? –, sondern höchstens: Warum ausgerechnet jetzt die? –, sollte aus meiner Sicht momentan die Frage lauten.
Ein bisschen klarer lässt sich aus unserer Sicht die Frage bei der Schule beantworten. Mit der Rückkehr der Klassen 1 bis 3 fangen wir mit denjenigen Kindern an, für die Präsenzunterricht besonders wichtig und Homeschooling am wenigsten eine sinnvolle Alternative ist. Dennoch bleibt Skepsis, auch wenn sich der Senat nunmehr in Abwägung der Folgen dafür entschieden hat. Aber so ist es nun mal: Wir müssen stets abwägen. Es ist legitim und auch richtig, nicht nur das Infektionsrisiko, sondern auch die Folgen für die Kinder und Eltern mit in die Waagschale zu werfen. Diese Aufgabe haben wir als Politikerinnen und Politiker, und die nimmt uns auch niemand ab.
Ich finde aber, wir können auch zur Kenntnis nehmen, dass jetzt mit den kleineren und festen Gruppen, mit Abstand, mit Lüftungsregeln und, wo das Fenster nicht aufgeht, mit Lüftungsgeräten, mit FFP2-Masken für Lehrerinnen und Lehrer und mit den ab nächster Woche verfügbaren Schnelltests eine Reihe von Schutzmaßnahmen getroffen sind, deren Wirksamkeit wir anschauen und bewerten müssen.
Ich hoffe, dass die Ankündigung aus der Pressekonferenz des Bundesgesundheitsministers von Freitag, die Tests schnell als Selbsttests auch für die Kids zuzulassen, auch umgesetzt wird. Hier können, wollen und müssen wir etwas lernen, aber – auch das ist eine gute Nachricht – auch wenn die Tests noch nicht als Selbsttests zugelassen sind: Sie sind nach Einweisung durch ein Video zur gegenseitigen Anwendung für Lehrerinnen und Lehrer und für Kitaerzieherinnen und -erzieher bereits zugelassen. Die Kanzlerin wies in ihrem Interview am Freitag im ZDF darauf hin. Dann nutzen wir das schnell mit Auslieferung der Testkits an die Schulen und Kitas und natürlich ab Zulassung als Selbsttest nach einer Videoeinweisung auch bei den Kindern. Jede gefundene Infektion ist besser als die Nichtdetektierten und bricht damit Infektionsketten.
Präsident Ralf Wieland:
Herr Kollege Schatz, ich darf Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage zulassen.
Carsten Schatz (LINKE):
Nein danke! – Auch über die Frage von Prioritäten beim Impfen muss zu reden sein, wenn wir bestimmte Bereiche der Gesellschaft für unverzichtbar halten. Insofern ist die Ankündigung der Bundesregierung, Personal an Schulen und Kitas höher priorisieren zu wollen, zu begrüßen. Es darf aber auch nicht nur bei der Ankündigung bleiben. Ergo: Wichtig war uns, dass wir hier behutsam ein Stück vorangehen und erst mal schauen und nicht schon die nächsten und übernächsten Schritte ankündigen und ebenso, dass wir diesen ersten Öffnungsschritt begleiten, indem wir mehr FFP2-Masken und Testmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Solche Maßnahmen stellen wir uns als Linke vor, wenn wir sagen, Solidarität muss organisiert werden – solidarisch mit den Kids, die endlich wieder den Kontakt zu Gleichaltrigen brauchen, solidarisch mit dem Personal in Kitas und Schulen, die verständlicherweise nach ihrem Schutz fragen.
Was mir in der aktuellen Debatte über mögliche Öffnungsschritte allerdings schon wieder zu kurz kommt, ist die Vorbereitung auf diese Öffnung. Denn die Absenkung der Infektionszahlen ist verbunden mit dem Ziel, die Pandemie beherrschbar zu machen. Als Linksfraktion haben wir im vergangenen Herbst einen Zehn-Punkte-Plan mit Vorschlägen und Fragen auf den Tisch gelegt. Den zweiten Lockdown konnten wir damit leider nicht verhindern. Umso wichtiger ist es, dass wir die Fehler aus dem vergangenen Frühsommer nicht wiederholen, als zu viele angesichts sinkender Infektionszahlen schon glaubten, wir hätten es überstanden. Deshalb müssen wir jetzt darüber sprechen, wie wir die Gesundheitsämter so aufstellen, dass Infektionen schnell erkannt und Infektionsketten schnell durchbrochen werden. Wie steht es also um deren personelle, räumliche und IT-Ausstattung? Wir müssen jetzt darüber sprechen, wie wir klare, nachvollziehbare und für die gesamte Stadt einheitliche Regeln beim Umgang mit Infektionen aufstellen.
Klaus Lederer hat in einem Diskussionsbeitrag im „Tagesspiegel“ zu Recht darauf hingewiesen, dass mit dem Auftreten der Mutationen faktisch alle Hygienekonzepte in den verschiedensten Einrichtungen auf den Prüfstand gehören. Denn eines ist jetzt bereits klar: Die Frage ist längst nicht mehr, ob sich diese Mutanten hier ausbreiten, sondern nur noch, wann. Daran ändern auch verzweifelte Grenzschließungen nichts mehr.
Angeregt hat Klaus Lederer ebenso, dass wir darüber sprechen, wie die Schnelltests, die im ersten Lockdown noch nicht zur Verfügung standen, jetzt sinnvoll eingesetzt werden können, und wie wir mit dem Einsatz in Schulen und Kitas jetzt erste Erfahrungen sammeln und diese dann auswerten, als Türöffner für Kultur und Sport zum Beispiel. Genau darum muss es uns jetzt gehen: unser Leben so weit als möglich pandemiesicher zu machen. Wir müssen auch darüber reden, wie wir die Zeit nutzen, um das vor uns liegende Frühjahr und den Sommer vorzubereiten, also mehr Aktivitäten nach draußen zu verlegen, und das sinnvoll planen. Es liegt also noch Wegstrecke vor uns, bis wir diese Pandemie wirklich im Griff haben werden. Auch danach werden unsere Welt und unsere Stadt nicht einfach wieder so sein wie vorher.
Wir wissen jetzt, dass so etwas geschehen kann, und dass solche Szenarien nicht nur reine Theorie sind. Wir wissen aber auch, dass wir in der Lage sind zu handeln, dass Politik etwas bewirken kann. Vieles, von dem es lange Zeit hieß, das gehe nicht, oder das brauche Zeit, geht jetzt eben doch, und manchmal sogar schnell.
Ich finde, auch diese Erfahrung sollten wir aufnehmen und erweitern und an unserer Widerstandsfähigkeit oder auch Resilienz arbeiten. Bis dahin, liebe Berlinerinnen und Berliner bleibt es dabei: Halten wir Abstand zueinander, tragen wir medizinische Masken, halten wir uns an Hygieneregeln, nutzen wir die Corona-Warn-App, lüften wir regelmäßig, wenn wir uns drinnen aufhalten, und vor allem: halten wir die Zahl unserer physischen Kontakte zu anderen Menschen klein und überschaubar. Bei Letzterem kann auch ein kleines Notizbuch oder seit Anfang Januar die Corona-Warn-App helfen.
Wenn wir solidarisch handeln und die Lasten der Krise und ihrer Überwindung gerecht verteilen, werden wir auch diese Krise meistern. – Ich danke Ihnen!