Kultur ist kein Luxus, sondern Menschenrecht

BildungKulturRegina Kittler

65. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 1. November 2020

Zu verschiedenen Änderungen der SARS-CoV‑2‑Infektionsschutzverordnung

Regina Kittler (LINKE):

 

Vielen Dank! – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Ausnahmezustand erreicht uns wieder mit voller Wucht, wir haben heute viele Beispiele gehört. So wie den Beschäftigten in der Pflege, in den Krankenhäusern, bei der Müllabfuhr, der Versorgung mit Strom, Gas, Wasser und anderswo gilt auch allen, die in Kita, Schule und Jugendhilfe alles geben, damit Kindern und Jugendlichen die Kitas und Schulen als sozialer Raum, als Raum des Für-sie-da-Seins und des Lernens erhalten bleibt, großer Dank.

Das Kümmern um Kinder und Jugendliche und ihre Bildung hat gesellschaftliche Priorität. Dass Kitas und Schulen geschlossen werden, muss deshalb – da sind wir uns, glaube ich, alle einig – so weit wie möglich vermieden werden. Das geht aber nur, wenn alles dafür getan wird, dass Pädagoginnen und Pädagogen und Kinder und Jugendliche gesund bleiben. Die Bedingungen dafür sind nicht überall vorhanden, auch wenn es im Vergleich zum Frühjahr Verbesserungen gibt und das natürlich vom Umfeld abhängig ist. Ich meine aber, es braucht die Vermeidung von Gruppenmischungen an Schulen, es braucht grundlegende und schnellere Fortschritte in der Digitalisierung, es braucht sofort ein Fensterreparaturprogramm, und es braucht ein einheitliches Vorgehen in allen Bezirken, um hier nur einiges zu nennen.

Gesellschaftlich relevant ist für unsere Stadt auch die Kultur; von allen Fraktionen heute auch benannt. Die pandemiebedingten Eindämmungsmaßnahmen haben im Frühjahr vielen Künstlerinnen und Künstlern sowie Kulturschaffenden von einem Tag auf den anderen ihre Arbeitsgrundlage entzogen. Die Schließung aller Veranstaltungsorte machte es ihnen unmöglich, ihre Arbeit auszuüben oder sie zu präsentieren. Viele sind innerhalb weniger Wochen so in eine existenzielle Notlage geraten. Die Soforthilfe II aus Landesmitteln hat zwar schnell und unbürokratisch sehr vielen Kulturschaffenden einen Zuschuss gewährt, konnte aber trotz sehr hoher ausgereichter Mittel nicht allen in Not Geratenen helfen. Zudem war dieser Zuschuss auf drei bzw. sechs Monate ausgelegt und kann die noch lange anhaltenden Arbeitseinschränkungen nicht überbrücken.

Die 2 000 Stipendien, die der Kultursenat für Künstlerinnen und Künstler ausgeschrieben hat und die jetzt ausgezahlt werden, werden vielen, aber auch nicht allen weiterhelfen. Über die Soforthilfe IV wird Kultur- und Kreativbetrieben vom Land geholfen, aber: Das Konjunkturprogramm des Bundes wie auch der erleichterte Zugang zur Grundsicherung gehen an den Lebens- und Arbeitsrealitäten der Kultur- und Kreativschaffenden völlig vorbei, schließlich bekommen die meisten von ihnen weder Kurzarbeitergeld noch Arbeitslosengeld I, und selbst die Grundsicherung bleibt vielen trotz des vereinfachten Zugangs verwehrt. Die Soforthilfe des Bundes berechtigt sie auch nicht, bei bestehenden Liquiditätsengpässen auch Lebenshaltungskosten anzurechnen. Das Gleiche droht jetzt wieder und weiter zu passieren.

Wie reagiert die Bundesregierung? – Da twittert Peter Altmaier am 29.10:

Meine Gedanken & Mitgefühl sind bei den Unternehmen & Selbständigen, die für 1 Monat schließen müssen, damit die Ausbreitung des Corona-Virus gestoppt wird. Ihr seid wertvoller Teil unserer Kultur & Identität.

Da kann ich nur sagen: Handeln statt nur Mitgefühl!

Carsten Schatz wies bereits darauf hin: Olaf Scholz musste erst durch einen Brief von Helge Schneider darauf aufmerksam gemacht werden, dass 75 Prozent des Einkommens aus November 19 auch null Euro sein können und ein Zwölftel des Jahreseinkommens wohl eine solidere Grundlage für Überbrückungshilfe wäre, damit sein Staatssekretär Schmidt auf Twitter antworten konnte – also, offiziell ist da noch gar nichts –:

… so machen wir es! Soloselbstständige können wählen …

Er schiebt aber gleich noch eins nach: „für die fixen Kosten!“ – Also für Betriebsausgaben. Die allermeisten Kulturschaffenden und die in der Kreativbranche Arbeitenden haben aber keine Betriebskosten. Kann die Bundesregierung das bitte endlich begreifen wollen!

Die Linksfraktion fordert deshalb die Bundesregierung und den Bundestag dringlich auf, entsprechend der am 05. 06. 2020 auf Initiative der Länder Berlin und Bremen beschlossenen Entschließung des Bundesrates die Kriterien der sogenannten Überbrückungshilfen des Bundes an die spezifischen Bedarfe der Kultur- und Kreativbranche anzupassen und einen Pauschbetrag als Einkommen zu ermöglichen. Es ist Alarmstufe Rot, und ich habe jedes Verständnis für die Verzweiflung, für die Wut und die Forderungen, die am Freitag auf die Straßen von Berlin getragen wurden. Nachdem die Theater, Konzerthäuser, Museen, Galerien und fast alle Kulturbetriebe unserer Stadt alles dafür getan haben, um den Menschen ein sicheres Kulturerlebnis zu ermöglichen – und sie damit ein konstruktiver Teil der Lösung und nicht des Problems sind –, wird nun alles wieder dichtgemacht.

Campino, Frontmann der Toten Hosen, hat recht, wenn er Richtungen Bundesregierung sagt: Wenn der Staat nicht handelt, könne

all das, auf das sich die Leute freuen, wenn die Pandemie vorbei ist, dann weg sein.

Er hat auch recht, wenn er feststellt:

Eine Lockdownstrategie in Schwarz-Weiß, das ist einfach zu wenig. Nach acht Monaten im Umgang mit der Pandemie können wir erwarten, dass die Verantwortlichen des Krisenmanagements differenzierter auf die Probleme schauen, als es im März, April möglich war.

In den letzten Monaten gaben Sie uns

– er meint die Bundesregierung –

das Gefühl, weniger wert zu sein als Autos, Flugzeuge und Fußballspieler.

Im Schlusswort des offenen Briefes von Alarmstufe Rot an die Bundesregierung heißt es:

Helfen Sie uns! Jetzt! Sonst werden wir in ein paar Monaten kulturell ein ärmeres Land sein.

Vizepräsidentin Dr. Manuela Schmidt:

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Juhnke?

Regina Kittler (LINKE):

Gleich!

Vieles von dem, was dann verschwindet, wird nicht wiederkommen. Damit wird nicht nur produktiven Mitgliedern eines Wirtschaftssystems die Lebensgrundlage genommen, sondern eine Gesellschaft ihrer Seele beraubt.

Herr Juhnke!

Dr. Robbin Juhnke (CDU):

Vielen Dank, Frau Kollegin, für die Möglichkeit, nachzufragen! Da muss ich mich doch wundern, wenn ich Ihre Worte höre, die ja praktisch eine reine Oppositionsdarstellung sind. Darf ich denn erwarten, dass Sie den Vorschlägen keine Zustimmung erteilen werden und die Coronaverordnungen ablehnen?

Regina Kittler (LINKE):

Wie Sie vielleicht wissen, Herrn Juhnke, sind wir auf der Bundesebene durchaus in der Opposition, und genau an diese Bundesebene habe ich mich jetzt gewandt. Falls Sie es nicht verstanden haben, können Sie es gerne noch mal nachlesen.

Ich möchte zumindest zum Schluss noch versichern: So wie unser Senator Klaus Lederer kann ich auch für die Linksfraktion hier nur erklären: Wir werden mit den Kulturschaffenden, mit den Kreativen dieser Stadt gemeinsam um jede notwendige Hilfe kämpfen. Wir werden um jeden gefährdeten Kulturort kämpfen, und wir müssen gemeinsam – und ich hoffe, da machen Sie mit, auch Sie, Herr Juhnke – darum kämpfen, dass Berlin Kulturstadt bleibt.

Und um mit Till Brönner zu enden:

Kultur ist kein Luxus, sondern ein Menschenrecht.

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