Quelle: rbb-online.de

Mehr Versammlungsfreiheit wagen

Innere SicherheitJustiz und RechtspolitikSebastian Schlüsselburg

"Mit dem Versammlungsfreiheitsgesetz modernisieren und liberalisieren wir das Versammlungsrecht Berlins. Wir schreiben das Recht auf ungehinderten Zugang zu Versammlungen, das Recht auf Gegenversammlungen in Hör- und Sichtweite und das Recht auf freie Berichterstattungen ins Gesetz." sagt Sebastian Schlüsselburg.

72. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 11. Februar 2021 

Zu "Gesetz über die Versammlungsfreiheit im Land Berlin" (Priorität der Fraktion Die Linke)

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres, Sicherheit und Ordnung vom 25. Januar 2021
Drucksache 18/3359

zum Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
Drucksache 18/2764

Sebastian Schlüsselburg (LINKE):

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Berlinerinnen und Berliner! Heute beschließen wir nach intensiver Debatte das neue Versammlungsfreiheitsgesetz. Mit diesem Gesetz modernisieren und liberalisieren wir nicht nur das Versammlungsrecht des Bundeslandes Berlin. Rot-Rot-Grün gibt damit zugleich der Bundeshauptstadt ein beispielgebendes Versammlungsrecht. Berlin ist die Stadt der Freiheit, und Rot-Rot-Grün steht wie keine andere politische Konstellation für die Verteidigung und den Ausbau der Grund- und Freiheitsrechte.

– Ja, da kann man mal klatschen. Gerade hier in Berlin, gerade jetzt, wenn die Demokratie unter Bedrängnis gerät, sagen wir: Lasst uns mehr Versammlungsfreiheit wagen!

Erlauben Sie mir, bevor ich zum Gesetz selbst komme, Dank zu sagen. Lieber Frank Zimmermann, lieber Sven Kohlmeier, lieber Benedikt Lux, lieber Andreas Geisel, lieber Torsten Akmann: Herzlichen Dank für die kollegiale Zusammenarbeit und den professionellen Streit.

Ein herzlicher Dank gebührt auch den Rechtswissenschaftlern Dr. Michael Breitbach von der Universität Gießen sowie Prof. Dr. Andreas Fischer-Lescano und Tore Vetter von der Universität Bremen, die uns mit ihrer Expertise beraten haben. Und schließlich danke ich auch allen anderen, die uns ihr Feedback im Gesetzgebungsverfahren gegeben haben, egal, ob Gewerkschaften, der HWR, der Gesellschaft für Freiheitsrechte oder anderen: Herzlichen Dank für Ihr Feedback und Ihre Expertise!

Lassen Sie uns nun zum Gesetz selbst und zu einigen Punkten kommen, die uns Linken besonders wichtig sind. Fangen wir mit drei Punkten an, mit denen wir notwendige Klarstellungen vornehmen, die uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat. Wir schreiben das Recht auf ungehinderten Zugang zu Versammlungen, das Recht auf Gegenversammlungen in Hör- und Sichtweite und das Recht auf freie Berichterstattungen ins Gesetz. Eigentlich sollte das durch die gefestigte Rechtsprechung eine Selbstverständlichkeit sein. Leider ist es das nicht. Im vergangenen Jahr musste ich das wiederholt als parlamentarischer Beobachter von Demonstrationen feststellen, und auch diverse Anerkenntnisurteile des Verwaltungsgerichts bestätigen dies. Jetzt kann es jeder in dem Gesetz nachlesen; die Demonstranten genauso wie die Polizei. Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Fundamentalkritik an der Gesetzesnovelle der Opposition nicht trägt. Die Opposition behauptet, dass es für dieses Gesetz keinen Bedarf gäbe. Die Opposition meint, man könne einfach beim verstaubten Bundesversammlungsgesetz bleiben. Ich sage: Spätestens dann, wenn ein für die Grundrechtsausübung so wichtiges Gesetz wie das Versammlungsgesetz aus sich selbst heraus nicht mehr verständlich ist, dann muss man es neu regeln.

Aber darum geht es CDU, FDP und AfD ja auch gar nicht. In der Debatte um dieses Gesetz wurde deutlich – und da bin ich froh –, wo die Trennlinie zwischen R2G und der rechten Hälfte dieses Hauses verläuft.

Wir führen hier einen Freiheitsdiskurs. Für uns ist das Versammlungsrecht zuallererst ein Freiheitsrecht. Sie führen einen Polizeidiskurs, und für Sie ist das Versammlungsrecht zuallererst spezielles Gefahrenabwehrrecht.

Damit verkennen Sie aber die konstitutive Funktion der Versammlungsfreiheit für unsere Demokratie. Es geht um die Gewährleistung des friedlichen öffentlichen Meinungskampfes, und dafür, werte Opposition, reicht das Bundesversammlungsgesetz der Siebzigerjahre zuzüglich 40 Jahre Rechtsprechung nicht mehr aus.

Kommen wir jetzt zu einigen neuen Freiheitserweiterungen. Die wahrscheinlich auffälligste und in der Praxis wahrscheinlich bedeutsamste Neuerung ist die Öffnung von privatrechtlich betriebenen, aber öffentlich zugänglichen Verkehrsflächen. Im Klartext heißt das: Künftig kann man sich zum Beispiel in Shoppingmalls, auf Bahnhöfen oder auf Privatstraßen und Privatplätzen versammeln oder demonstrieren. Das ist der versammlungsrechtliche Beitrag zu unserem linken Versprechen: Wir geben euch die Stadt zurück! Liebe Berlinerinnen und Berliner, nutzt diese Möglichkeiten, seid bei der Umsetzung so kreativ und einfallsreich, wie wir euch kennen.

Außerdem haben wir als bisher einziges Bundesland das gerade jetzt besonders aus der Zeit gefallene Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbot eingeschränkt. Nur noch die konkrete Verwendung, um polizeiliche Maßnahmen im Zusammenhang mit Demonstrationen zu vereiteln, ist zukünftig strafbar, aber nicht mehr das einfache Mit-sich-führen oder einfache Verwenden. Damit wird es in Berlin zukünftig hoffentlich keine langwierigen Prozesse um Fahrradhelme, Sonnenbrillen oder Luftpumpen mehr geben.  Das entlastet die Gerichte und gibt der Polizei, die nicht mehr sofort einschreiten muss, mehr Sicherheit. Darüber hinaus haben wir viele Strafvorschriften zu Ordnungswidrigkeiten herabgestuft.

Wir sind gespannt, wie dieses neue Gesetz mit Leben erfüllt und sich in der Praxis bewähren wird. Das gilt insbesondere auch für den Beschränkungsparagrafen 14, indem wir durchaus rote Linien gegen Volksverhetzung, Holocaustleugnung, NS-Verherrlichung, Rassismus, Hass- und Hate-Speech ziehen.

Ich schlage vor, dass wir in drei bis vier Jahren in die Praxis und die Rechtsprechung gucken, sie auswerten und uns ansehen, ob und welchen Anpassungsbedarf es gibt. Bis dahin halten wir es mit der Band „Die Ärzte“ – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:

Geh mal wieder auf die Straße, geh mal wieder demonstrieren!

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit!