Öffentlicher Gesundheitsdienst hat immense Bedeutung

"Diese Krise macht uns gerade deutlich, welch immense Bedeutung ein funktionierender öffentlicher Gesundheitsdienst hat." sagt Wolfgang Albers.

66. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 5. November 2020

Zu Coronamaßnahmen rechtssicher gestalten – Gesundheitsämter stärken (Priorität der Fraktion der CDU)

Dr. Wolfgang Albers (LINKE):

Frau Präsidentin! Meine Damen, meine Herren! Das Identifizieren von Kontaktpersonen und die Kontaktnachverfolgung sind das A und O bei der Bekämpfung von ansteckenden Erkrankungen und sind nach dem Infektionsschutzgesetz elementare und originäre Aufgaben der öffentlichen Gesundheitsdienste. Selbstverständlich müssen diese auch in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben zu erfüllen.

Ich muss hier nicht mit anderen Worten und weniger aufgeregt das wiederholen, was der Kollege Isenberg dazu gesagt hat. Ich will deshalb die Gelegenheit nutzen, einmal kritisch daran zu erinnern, wie wir über viele Jahre mit unseren öffentlichen Gesundheitsdiensten umgegangen sind. Nicht nur in von SPD, Linken und Grünen besetzten Bezirksämtern, sondern auch in denen, in denen die CDU das Sagen hatte, Frau Seibeld.

Ich kann mich noch sehr gut an die Debatten zum Beispiel in der 16. Legislaturperiode erinnern, als 2007 und 2008 in diesem Haus ernsthaft darüber diskutiert wurde, große Teile der Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes in die Gewährleistung zu geben, also zu privatisieren. Die damalige Diskussion war nicht von der Frage geprägt, welche Aufgaben der öffentliche Gesundheitsdienst eigentlich hat, sondern sie stand vielmehr unter der Fragestellung, welche Aufgaben wir uns noch leisten können. Statt diese Aufgaben offensiv zu definieren und den ÖGD als wesentliche, dritte Säule der Gesundheitsversorgung auszurichten, ging es um Einsparpotenziale. In der Gesetzesvorlage zum Gesundheitsdienstreformgesetz von 2006 hieß es klar und unmissverständlich:

Gegenüber dem Ergebnis der Kosten- und Leistungsrechnung von 2004, wonach in diesem Jahr Gesamtkosten von 139,2 Mio. Euro entstanden sind, werden für den öffentlichen Gesundheitsdienst der Bezirke dauerhafte Einsparungen in erheblichem Umfang erwartet …

Das war die Prämisse. Eine weitergehende Auslagerung der öffentlichen Gesundheitsvorsorge konnte damals zum Glück politisch verhindert werden. Aber dennoch ist es uns nicht gelungen – das müssen wir auch selbstkritisch sagen –, den ÖGD seiner Bedeutung für die öffentliche Gesundheitsversorgung entsprechend personell und finanziell perspektivisch adäquat auszustatten. Die Fehlbestände an Personal sind bekannt und werden mehr oder weniger regelmäßig in Schriftlichen Anfragen abgefragt. Bereits 2010 hieß es dazu im Schlussbericht des Projekts zur Umsetzung des Gesundheitsdienstgesetzes:

Während der gesamten Projektlaufzeit war der Abbau der Stellen für den gesamten ÖGD nicht aufzuhalten. … Mit einem derart reduzierten Personalbestand wird die Freisetzung von Potentialen für Modernisierungsprozesse und die Erfüllung neuer Aufgaben verhindert. Die zurzeit gesetzlich vorgeschriebenen Aufgaben sind nicht mehr in vollem Umfang und mit der erforderlichen Qualität in allen Bezirken zu erfüllen.

2010, Frau Seibeld! Und wissen Sie, was das Bezirksamt Neukölln 2010 gemacht hat? – Von den 16 Stellen, die geschaffen wurden, ist nicht eine einzige in den öffentlichen Gesundheitsdienst gegangen. Am 1. Januar 2004 hatte der öffentliche Gesundheitsdienst eine Personalausstattung von 2 103 Vollzeitäquivalenten. Am 31. Dezem­ber 2018 betrug die Ist-Zahl der verbliebenen Vollzeitkräfte noch 1 533. 227 Stellen waren zu diesem Zeitpunkt unbesetzt, obwohl dieser Senat bereits 2017 begonnen hatte, 400 neue Stellen im ÖGD aufzubauen. Trotz vielfältiger und ernsthafter Bemühungen, die Stellen zu besetzen, ist es noch keiner Senatsverwaltung und auch den Verantwortlichen in den Bezirken nicht wirklich gelungen, einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen. Das liegt nicht nur an der Bezahlung. Da haben wir zum Beispiel für die Ärzte eine tragfähige Übergangslösung gefunden, die eine den Krankenhausärzten vergleichbare Bezahlung ermöglicht.

Diese Krise macht uns gerade deutlich, welch immense Bedeutung ein funktionierender öffentlicher Gesundheitsdienst hat.

Jetzt erwarten wir, dass die Kolleginnen und Kollegen dort jeden Tag über sich hinauswachsen und unsere politischen Versäumnisse der Vergangenheit über ihr individuelles und außerordentliches Engagement bis über die Grenzen der Belastbarkeit hinaus ausbügeln. Der Einsatz von Hilfskräften, seien es Studierende, das THW oder die Bundeswehr, kann doch allenfalls eine kurzfristige oder nur vorübergehende Lösung in einer besonderen Ausnahmesituation sein. Das ist doch keine strukturelle Lösung – es sei denn, Sie wollen jetzt angesichts dieses Infektionsgeschehens, was die Bundeswehr betrifft, Schwerter zu Pflugscharen machen. Da wären wir sofort dabei.

Eine grundsätzliche Neubewertung des ÖGD ist notwendig als substanzielle dritte Säule unseres Gesundheitssystems mit einer klaren und breit angelegten Definition seines Aufgabenspektrums, auch auf der Grundlage der Erfahrungen. Zur Erfüllung dieses Aufgabenspektrums braucht es die entsprechende personelle und technische Ausstattung. Wir müssen unsere Gesundheitsstrukturen pandemiefest machen. Es ergibt keinen Sinn, auf einen Impfstoff zu warten – in der Hoffnung, dann werde alles anders. Bisher ist es erst einmal gelungen, ein Virus zu eradizieren. 1980 erklärte die Weltgesundheitsorganisation die Pocken für ausgerottet – nach jahrzehntelangem Kampf und Milliarden von Impfdosen. 

Wir werden also mit diesem Virus leben müssen und deshalb lernen müssen, mit diesem Virus zu leben, nicht furchtbestimmt, ängstlich und in sozialer Isolation, weil wir im Nachbarn, in jedem Mitmenschen den vermeintlichen Virusträger sehen, sondern selbstbewusst und in der Gewissheit, die Bedingungen dafür geschaffen zu haben, die es ermöglichen, auch diese Erkrankung zu beherrschen, so wie wir bisher auch alle anderen Krankheiten, die durch Erreger verursacht werden, zu beherrschen gelernt haben. Die Frage kann deshalb künftig nicht mehr sein: Was können wir uns an öffentlichem Gesundheitsdienst leisten? – Die Frage muss vielmehr sein: Was müssen wir uns an öffentlichem Gesundheitsdienst leisten?

Und das muss dann auch konsequent und auskömmlich finanziert werden. Das ist gut angelegtes Geld. Eine Pandemie kommt uns allemal teurer zu stehen. – Danke!

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