Ansatz von Housing First überzeugt: Wohnen ist ein Menschenrecht
"Der Ansatz von Housing First ist überzeugend. Wohnen ist ein Menschenrecht. Erst gibt es eine Wohnung. Und dann kommt alles Andere. Es geht nicht rum „Du musst erst wohnfähig werden.“ Oder „Du musst erst clean sein, bevor Du Hilfe bekommst“.
Statt um Bevormundung geht es um Respekt, Würde und Selbstbestimmung." sagt Sandra Brunner in der Aktuellen Stunde zum Thema Wohnungslosigkeit.
18. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses, 20.10.2022
Aktuelle Stunde zum Thema: Berlin lässt niemanden zurück – Wohnen und Wohnungslosigkeit im Kältewinter
Sandra Brunner (LINKE):
Sehr geehrter Herr Präsident! Letzte Woche Freitag war der Tag der offenen Tür bei Housing First Berlin. Housing First Berlin hat einen zweiten Standort in der Samoastraße eröffnet, und ich kann Ihnen nur raten, da mal vorbeizugehen. An den Wänden hängen Briefe voller Dankbarkeit von Menschen, die zufrieden sind, die dank der Unterstützung der Berliner Stadtmission und auch der Neue Chance gGmbH nach jahrelanger Zeit der Obdachlosigkeit eine Wohnung gefunden haben. Der Ansatz von Housing First ist überzeugend: Wohnen ist ein Menschenrecht. Erst eine Wohnung, und dann kommt alles andere.
Es geht dabei nicht darum: Du musst erst wohnfähig werden, oder: Du musst erst clean werden. – Stattdessen geht es um Respekt, um Würde und um Selbstbestimmung. Im Mittelpunkt steht: Was kann ich? Was will ich? Und genau diese Unterstützung beim Mobilisieren von Selbsthilfekräften, das Anknüpfen an die Wünsche des Betroffenen, das sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren. Weitere Angebote sorgen dafür, dass sich die psychische Gesundheit der Menschen stabilisiert, dass die Menschen wieder Kontakt aufnehmen zu ihren Angehörigen oder beispielsweise ihren Krankenversicherungsschutz klären.
Der Erfolg gibt Housing First recht. Fast alle verbleiben in ihren Wohnungen. Die Wohnstabilität der Mieterinnen und Mieter beträgt fast 100 Prozent. Deswegen ist es richtig, dass Rot-Grün-Rot im Doppelhaushalt die Mittel für Housing First Berlin und Housing First für Frauen verdoppelt hat.
Dass wir das in Berlin richtig machen, zeigt doch auch die Reaktion der Bundesbauministerin. Frau Geywitz hat angekündigt, jetzt auch einen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit aufzulegen und dass Housing First ein klasse Projekt ist, um Wohnungslosigkeit zu überwinden. Berlin ist zumindest hier ein gutes Beispiel für die Politik der Bundesregierung.
Ich freue mich besonders, dass der Sozialdienst katholischer Frauen dieses Jahr sein Angebot bei Housing First für Frauen ausbaut und nun auch Frauen mit Kindern aufnimmt. Der Sozialdienst katholischer Frauen ist in besonderer Weise für wohnungslose Frauen engagiert, und nicht zuletzt deshalb hat auch die Linksfraktion ihre Diätenerhöhung in diesem Jahr komplett an den Sozialdienst gespendet.
Über viele Jahre hinweg waren Angebote nur für Frauen in der Wohnungslosenhilfe Mangelware, und es gibt immer noch zu wenig davon. Verschämt, versteckt, verdrängt – so kann man die Situation wohnungsloser Frauen in Berlin und auch in Deutschland beschreiben. Aus Angst vor dem Verlust ihrer Kinder verbleiben viele in gewaltgeprägten Beziehungen oder suchen Unterschlupf bei Angehörigen oder vermeintlichen Beschützern. Sie erfahren oft sexuelle Gewalt und Unterdrückung, und sie sind zu Recht misstrauisch, wenn man ihnen gemischtgeschlechtliche Unterkünfte anbietet. Deswegen haben die Strategiekonferenzen zur Wohnungslosenhilfe zu Recht eingefordert, dass es mehr und niedrigschwellige Angebote für wohnungslose Frauen geben muss. Die Notübernachtung „Evas Obdach“ oder auch die Tagesstätte „Evas Haltestelle“ für wohnungslose Frauen sind beispielgebend dafür, und auch das Duschmobil für wohnungslose Frauen des Sozialdienstes katholischer Frauen. All das hat Eingang gefunden in den Masterplan zur Bekämpfung von Wohnungslosigkeit, den wir hier in Berlin aufgelegt haben. Dafür brauchen wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen, und bei jeder dieser Maßnahmen muss das Prinzip Housing First unser Leitmotiv sein. Wenn jetzt die Heizkosten steigen, dann muss auch die AV Wohnen Schritt halten, damit sozialleistungsbeziehende Haushalte weiter in ihrer Wohnung bleiben dürfen,
Um teure Unterbringung in Wohnungslosenunterkünften zu vermeiden, wird es jetzt möglich gemacht, dass wohnungslose Familien trotzdem eine Wohnung anmieten können, und zwar selbst dann, wenn die Miete höher ist als nach der AV Wohnen. Das ist richtig, denn Wohnen ist besser als Unterbringung, und im Übrigen auch billiger als Unterbringung.
Bereits in den ersten beiden Coronajahren hat Berlin sogenannte 24/7-Unterkünfte eingerichtet, darunter im Übrigen eine für Frauen. Statt nur einen Schlafplatz für die Nacht zu haben und anschließend wieder auf die Straße zu müssen, können Menschen dort tagsüber bleiben und Ruhe finden. Es gibt Wärme, es gibt Schutz, es gibt Essen und Trinken. Viele der Bewohnerinnen und Bewohner haben sich Unterstützungsangeboten geöffnet, beispielsweise einen Personalausweis oder Hartz IV beantragt. Diesen Ansatz, mehr Ganztagsplätze auszubauen, müssen wir hier in Berlin weiterverfolgen.
Damit niemand krank auf der Straße bleiben muss, geht im November dank der Senatssozialverwaltung nun endlich wieder eine Quarantäneunterkunft für Obdachlose an den Start, und auch ein Tagesangebot zum Aufwärmen und zum Essen, wie letztes Jahr im Hofbräuhaus, soll es ab Dezember wieder geben.
Die Kältehilfe ist am 1. Oktober dieses Jahres gestartet. Sie bietet in der kalten Jahreszeit seit mehr als 30 Jahren wohnungslosen Menschen einen Schlafplatz für die Nacht.
Ohne das unermüdliche Engagement der Kirchen, Sozialverbände, Wohlfahrtsverbände und der vielen Ehrenamtlichen in dieser Stadt wäre das nicht möglich gewesen. Dafür gilt ihnen wirklich mein aufrichtiger Dank.
Ich bin sehr froh, dass wir hier in der Berliner rot-grün-roten Regierungskoalition intensiv darüber sprechen, wie wir den Existenzsorgen der Berlinerinnen und Berliner begegnen können. Wir wollen in diesem Krisenwinter niemanden zurücklassen. Deshalb haben wir über die Entlassungspakete der Bundesregierung hinaus ein weiteres Entlastungspaket nur für Berlin aufgelegt. Das hilft vor allen Dingen Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen.
Es soll niemand im Dunkeln sitzen oder frieren. Deswegen kommt der Härtefallfonds zur Verhinderung von Energiearmut. Wir unterstützen diejenigen Menschen, die ihre gestiegenen Heiz- oder Stromkosten nicht mehr bezahlen können. Die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften sollen in diesem und im nächsten Jahr niemandem kündigen dürfen, der wegen der gestiegenen Heizkosten in finanzielle Nöte gerät.
Ich freue mich besonders, dass der offene Brief der Gewerkschaften, der Sozial- und Mieterverbände Gehör gefunden hat und nun auch bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften in diesem und im nächsten Jahr keine Mieterhöhungen erfolgen sollen. Das haben wir als Linke immer unterstützt, und das hilft den Mieterinnen und Mietern der rund 350 000 landeseigenen Wohnungen. Vielen Dank dafür!
Natürlich ist die Bitte der Senatssozial- und auch der Justizverwaltung an die Gerichte und die Gerichtsvollzieherinnen und Gerichtsvollzieher, in diesem Krisenwinter sehr sensibel in Räumungsangelegenheiten vorzugehen und nicht in die Obdachlosigkeit zu räumen, nicht nur legitim, sondern auch menschlich geboten.
Wenn wir in den nächsten Wochen den Nachtragshaushalt beraten, dann ist es das A und O, dass wir auch die Einrichtungen der sozialen Infrastruktur in dieser Stadt unterstützen. Dafür spannen wir einen sozialen Schutzschirm. Egal, ob Bibliotheken, Seniorenfreizeiteinrichtungen oder Einrichtungen der Behindertenhilfe: Sie alle brauchen unsere Unterstützung. Sie gehören zur öffentlichen und zur sozialen Daseinsvorsorge dieser Stadt. Mit dem Netzwerk der Wärme schaffen wir gemeinsam mit vielen engagierten Bürgerinnen und Bürgern dieser Stadt Begegnungsorte. Es geht um menschliche Wärme, und es geht auch um Beratungsangebote. Es geht um Solidarität und den sozialen Zusammenhalt in dieser Stadt. Das erwarten die Menschen von uns, von der Politik.
Einen letzten Wunsch habe ich noch. Bitte, schauen Sie sich draußen in der Lobby des Abgeordnetenhauses die beeindruckende Ausstellung „BLICKWECHSEL – Ich zeig dir meine Welt“ von Debora Ruppert an! Debora Ruppert porträtiert seit vielen Jahren obdachlose Menschen. Die Bilder zeigen uns Menschen mit ihren Wünschen und Hoffnungen und geben uns einen Einblick in ihr Leben auf der Straße. Ich bitte Sie, wenn Sie in nächster Zeit einem wohnungslosen Menschen begegnen: Sprechen Sie ihn höflich an. Fragen Sie, was er oder sie benötigt, und suchen Sie das Gespräch, denn oftmals ist es genau das, was auch fehlt: ein freundliches Wort. – Vielen Dank!