Hanau: Rassismus im Alltag bildet Grundlage für rechten Terror

Anne Helm
RechtsextremismusAnne Helm

In der aktuellen Stunde anlässlich des zweiten Jahrestages des rassistischen Anschlags in Hanau kritisiert die Fraktionsvorsitzende Anne Helm das Versagen der Behörden, das immer noch nicht aufgearbeitet ist. Sie appelliert: "Rassismus im Alltag bildet die Grundlage für rechten Terror. Treten wir ihm entgegen wo immer er uns begegnet. Ob beim Familienfest, am Arbeitsplatz oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Schauen wir nicht weg, schweigen wir nicht!"

7. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses, 24.02.2022

Zur Aktuellen Stunde: Zwei Jahre nach Hanau – gegen Rassismus und Diskriminierung, für ein Berlin für alle

Anne Helm (LINKE)

Anne Helm (LINKE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum zweiten Mal sprechen wir anlässlich des Jahrestags des entsetzlichen rechten Terroranschlags im Rahmen einer Aktuellen Stunde in diesem Saal. Zwei Jahre sind vergangen, aber die Schmerzen der Überlebenden und Hinterbliebenen sind immer noch unermesslich. Ich mag mir nicht ausmalen, was es für sie bedeuten muss, eine derartige Relativierung und Verhöhnung ihrer Angehörigen wie heute in diesem Saal ertragen zu müssen.

Die fatalen Versäumnisse der Behörden sind immer noch nicht aufgearbeitet, im Gegenteil. Statt die Betroffenen von rechter Gewalt und deren Angehörige in ihren begründeten Sorgen ernst zu nehmen, wurden und werden sie immer wieder selbst kriminalisiert. So ermittelten die Behörden im Fall der NSU-Morde bekanntlich in erster Linie im Opferumfeld. Die Angehörigen der Opfer des Attentäters von Hanau erhielten direkt nach der Tat Gefährderansprachen von der Polizei, wurden also aufgefordert, dass sie keine Straftaten begehen sollen.

Die Communitys haben nicht vergessen, dass die Morde des NSU in der Boulevardpresse lange Zeit lakonisch als „Dönermorde“ bezeichnet wurden und die Ermittlungsgruppe den Namen „Soko Bosporus“ trug – eine unerträgliche Verhöhnung und Dehumanisierung der Betroffenen, deren Angehörige und Überlebende schon lange vor der Selbstenttarnung wussten, dass sie Opfer einer rechten Terrorserie geworden waren. Die Anwältin der Angehörigen von Enver Şimşek, dem ersten Opfer des NSU-Trios, Seda Başay-Yildiz, wurde jahrelang von einem Nazi bedroht, der sich in seinen widerlichen Briefen als NSU 2.0 bezeichnete. Die privaten Informationen dazu kamen höchstwahrscheinlich direkt von Polizeibeamten aus Hessen. Seitdem wurden etliche rechte Zellen innerhalb der hessischen Sicherheitsbehörden enttarnt.

Lieber Herr Kollege Wegner! Bei unserem gemeinsamen Anliegen, Sie haben das deutlich formuliert, rechte Strukturen zu zerschlagen, darf das leider nicht unter den Tisch gekehrt werden.

Ganz aktuell zeigt ein Fall hier vor Ort, wie schnell Opferperspektiven verwischt werden. Als die Berlinerin Dilan S. vor einigen Wochen in der Tram Opfer eines brutalen gemeinschaftlichen rassistischen Angriffs wurde, wurde sie in der Polizeimeldung und infolgedessen in der Presse zunächst als Maskenverweigerin dargestellt, statt die rassistischen Motive der Tat kenntlich zu machen. All das, was ich hier beschrieben habe, zeigt, wie Opfer nach traumatischen Schicksalsschlägen erneut gedemütigt werden, dass rassistische Motive verschleiert werden und dass sie selbst sich Verdächtigungen oder sogar Verfolgung ausgesetzt sehen. Das ist nicht hinnehmbar! Eine der Lehren aus dem Terror von Hanau muss sein, dass damit nun ein für alle Mal Schluss ist.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Angehörigen bedanken, die sich in der Initiative „19. Februar“ zusammengeschlossen haben, um für Aufklärung zu kämpfen und anderen Betroffenen beizustehen. Ihre Kraft und ihr Engagement verdienen höchste Anerkennung. Sie verhindern, dass das eintritt, was der Attentäter wollte: die Auslöschung der Opfer. Ihre Gesichter und Namen sind überall zu sehen. Sie werden nie vergessen sein. Sie gehören für immer zu uns. Danke dafür!

Unsere Kolleginnen und Kollegen im Hessischen Landtag haben mittlerweile ihre Arbeit im Untersuchungsausschuss zu den Morden in Hanau aufgenommen, um die Antworten auf die Fragen zu finden, die den Behörden den Angehörigen bis heute schuldig geblieben sind. Welche politischen Antworten haben wir hier in Berlin auf die Tat in Hanau? – Wir werden ein Landesopferschutzgesetz verabschieden, durch das Opfer von Straftaten einen Anspruch auf Beratungs- und Unterstützungsleistungen erhalten. Wir werden die Polizei diverser und diskriminierungskritischer aufstellen. Ich bin sehr erleichtert, dass der Rauswurf eines rechtsextremen Funktionärs der AfD-Jugendorganisation aus dem Polizeidienst nun auch gerichtlich bestätigt wurde. Rechtsextremes, rassistisches, queer-feindliches und antisemitisches Gedankengut darf in der Berliner Polizei keinen Platz haben. Nur so schaffen wir es, verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Um Ihnen eine weitere Dimension der Tat deutlich zu machen, lassen Sie mich an dieser Stelle bitte Filip Goman, den Vater der in Hanau ermordeten Mercedes Kierpacz, zitieren:

Mein Opa wurde im KZ vergast, meine Tochter in Hanau erschossen.

Komprimierter lässt sich die Kontinuität antiziganistischer Morde in Deutschland nicht beschreiben. Eine Kontinuität, die man vom Mittelalter über den Terror des Porajmos bis hin zu den heutigen Taten erkennen kann. Sinti und Roma wurde die Anerkennung als Opfer des NS-Terrors im Nachkriegsdeutschland nicht gewährt, und viele Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager sind gestorben, ohne je eine Entschuldigung, geschweige denn eine Entschädigung von Deutschland bekommen zu haben. Bis heute werden Roma und Sinti auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt benachteiligt. Umso wichtiger ist es, dass das viel zu spät begonnene Gedenken an den Porajmos angemessen fortgesetzt wird. Deshalb ist der Erhalt des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma während und auch nach dem Bau der S 21 für uns eine ganz besondere Verpflichtung.

Gemeinsam mit den Communitys werden wir einen Beirat für Angelegenheiten von Roma und Sinti gründen, um Antiziganismus aktiv entgegenzutreten. Außerdem werden wir den Aktionsplan Roma in ein Landesprogramm zur Stärkung der Teilhabe von Roma und gegen Antiziganismus überführen und eine Ansprechperson zur Bekämpfung von Antiziganismus benennen. Es wird aber noch weitere weitreichende Maßnahmen auch im Bildungsbereich erfordern, um ihre Geschichte und ihre Kultur in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart stärker in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken.

Zur Wahrheit von Hanau gehört auch, dass der Täter sich sehr bewusst unter anderem eine Shisha-Bar als Anschlagsziel ausgesucht hat. Er nahm an, dass er dort möglichst viele vermeintliche Muslime treffen würde. Die Shisha-Bar als Ort von Begegnungen und Entspannung wurde zu einem Ort des Terrors und der Bedrohung. Ich halte das für eine sehr bedenkliche Entwicklung, der wir auch hier in Berlin etwas entgegensetzen können und auch müssen.

Wenn Shisha-Bars im öffentlichen Diskurs ausschließlich im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität auftauchen, dann werden solche Orte der Begegnung pauschal ins Zwielicht gestellt und verdächtig gemacht. Das schürt gefährliche Ressentiments.

Rassismus und an dieser Stelle insbesondere antimuslimischer Rassismus arbeitet immer mit Fremdzuschreibungen. Deshalb haben wir bereits im Koalitionsvertrag festgelegt, dass wir zur Stärkung der Teilhabe und Sichtbarkeit von Musliminnen und Muslimen ein Landeskonzept „Muslimisches Leben in Berlin“ entwickeln werden. Darüber hinaus wird die Experten- und Expertinnenkommission zu antimuslimischem Rassismus fortgeführt, um eine interdisziplinäre Handlungsstrategie auf den Weg zu bringen. Ich bin guter Hoffnung, dass auf der Bundesebene jetzt endlich ohne eine CDU in der Regierungsbeteiligung das lange geplante Demokratiefördergesetz eingeführt werden kann, durch das die Arbeit von Hilfs- und Beratungsstrukturen abgesichert wird.

Die gerechte Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte und Rassismuserfahrungen in allen Teilen des gesellschaftlichen Lebens ist ein Grundrecht, aber es ist auch ein Schutz vor Ausgrenzung und Rassismus. Wer in unserer Mitte steht, kann von Hetzern nicht so einfach als fremd oder anders markiert werden. Wer selbstverständlicher Teil unseres Staates und seiner Institutionen ist, steht ihnen nicht hilflos gegenüber. Deshalb freue ich mich besonders, dass ich heute diese Sache mit einem wesentlich diverseren Plenum als noch im letzten Jahr diskutieren kann. Um die Teilhabe und die Repräsentation von Menschen mit Migrationsgeschichte auch im öffentlichen Dienst zu gewährleisten, hat Rot-Rot-Grün schon in der letzten Legislatur das Partizipationsgesetz verabschiedet, und wir werden dieses nun gemeinsam mit dem Migrationsbeauftragten und der Zivilgesellschaft zügig umsetzen.

Im Zuge der Coronakrise haben rassistische und antisemitische Verschwörungsideologien, denen auch der Täter von Hanau anhing, einen Aufschwung erlebt. Mit dem heute Nacht entfesselten Krieg wird diese Gefahr sicherlich nicht kleiner werden. Die Angst vor einem Großflächenbrand, die zu erwartenden Fluchtbewegungen und auch die wirtschaftlichen Folgen werden uns allen – vor allem uns, liebe Kolleginnen und Kollegen – große Kraftanstrengungen abverlangen, die humanitären Werte, das friedliche Zusammenleben auch in dieser Stadt zu verteidigen.

Liebe Berlinerinnen und Berliner! Rassismus im Alltag bildet die Grundlage für rechten Terror. Treten wir ihm entgegen, wo immer er uns begegnet – ob beim Familienfest, am Arbeitsplatz, in den öffentlichen Verkehrsmitteln und selbstverständlich auch hier im Parlament! Schauen wir nicht weg! Schweigen wir nicht! Oft hilft schon ein beherztes Wort des Widerspruchs, um andere zu motivieren, einzugreifen. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass nicht die Betroffenen von Rassismus am Rande unserer Gesellschaft stehen, sondern die Rassistinnen und Rassisten. – Herzlichen Dank!