Haushaltschaos 2.0: Eine halbe Milliarde Zensuslücke und die Koalition ohne Plan
Rede des Sprechers für Haushalt und Finanzen, Sebastian Schlüsselburg, zu unserer Aktuellen Stunde zur Zensusschock im schwarz-roten Haushalt
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Berlinerinnen und Berliner!
„Wir werden uns das Melderecht in Theorie und Praxis anschauen müssen. Hier scheint eine Ursache zu liegen, weil das An- und Abmeldeverhalten von Wohnsitzen offenbar nicht verpflichtend genug ausgestaltet, geschweige denn im Nichtbefolgungsfalle ausreichend und wirkungsvoll sanktioniert ist.“
Das waren nicht meine Worte. Mit Erlaubnis der Präsidentin habe ich unseren CDU-Kollegen Sven Rissmann zitiert, und zwar aus seiner Rede hier im Abgeordnetenhaus am 13. Juni 2013, denn genauso wie heute, wurde unser Berlin damals vom Zensusschock getroffen. Auf einen Schlag schrumpfte Berlin damals um 180 000 Einwohnende. Das entspricht ungefähr der Stadt Saarbrücken. Dafür gab es damals keine Vorsorge im Landeshaushalt oder der mittelfristigen Finanzplanung. Mit diesen Mindereinnahmen hatte damals niemand gerechnet.
Was also passierte damals? – Erstens: Es wurde – hört, hört! – eine Arbeitsgruppe unter Federführung der Innenverwaltung eingesetzt. Sie sollte das Meldeverfahren auf Herz und Nieren prüfen, die Fehlerquellen ausfindig machen und letztlich dafür sorgen, dass sich so ein Zensusschock beim nächsten Mal nicht wiederholt. Zweitens wurde haushälterische Vorsorge getroffen, und zwar durch das Einstellen von Mindereinnahmen in den verschiedenen Finanzplanungen seit diesem Zeitpunkt. Bleibt noch die Frage, ob es damals zu schmerzhaften Kürzungen kam. – Nein, dazu kam es nicht. All die orakelhaften Ankündigungen und teilweise wilden Horrorrechnungen zum künftigen Haushaltsrisiko von damals 3 Milliarden Euro wegen Personalkosten, Zinsrisiko und wegbrechenden Solidarpaktmitteln des Genossen Torsten Schneider von der SPD traten zum Glück, müssen wir heute sagen, nicht ein. Kein Auge würde trocken bleiben, lieber Torsten, hast du damals gesagt und um eine Tasse Earl Grey gewettet.
Heute kann man sagen, damals waren Kürzungen nicht nötig, weil in Berlin und bundesweit die Steuereinnahmen sprudelten. Die Zensusmindereinnahmen konnten also genauso – um ein Zitat aus der Fachzeitschrift Kicker zu bemühen – wie die Windhorst-Millionen bei Hertha BSC einfach wirkungslos verdaut werden. Und was haben wir noch gelernt? – Lieber Torsten, du schuldest Manuela Schmidt und Jochen Esser eine Tasse guten Earl Grey. Ich wünschte, wir könnten auch heute so eine launige Debatte über trockene Augen, Voodoozahlen, Nußbaum, Geldbunker und Earl Grey führen. Die bittere Wahrheit ist: Unser Berlin wurde erneut von einem Zensusschock getroffen. Dieses Mal sind plötzlich knapp 128 000 Menschen verschwunden oder eine Stadt in der Größenordnung von Ulm. Anders als damals wird uns das allerdings teuer zu stehen kommen. Rückwirkend ab 2022 bedeutet das nämlich 450 Millionen Euro pro Jahr weniger. Und das wächst hoch auf circa 550 Millionen Euro im Jahr 2028. Nur mal zum Vergleich: Aktuell geben wir für die Feuerwehr und den Brandschutz pro Jahr 491 Millionen Euro aus.
Anders als 2013 hätte dieser Zensusschock eigentlich gar nicht oder zumindest nicht in dieser Größenordnung eintreten dürfen. Ich würde gerne wissen: Was war denn das Ergebnis der Senatsarbeitsgruppe? Was wurde getan, um die Genauigkeit der Melderegister zu verbessern? Warum sind wir bei unseren Daten und Prognosen immer noch signifikant schlechter als der Bundesdurchschnitt? Was wurde getan, um dafür Sorge zu tragen, dass insbesondere die Auswanderer nicht vergessen, sich abzumelden? Ich gestehe gerne zu, in einer Metropole wie Berlin ist das natürlich nicht so einfach wie vielleicht in Saarbrücken oder Ulm. Aber diese Frage muss der Senat beantworten.
Ich hoffe, Herr Finanzsenator und Frau Innensenatorin, dass Sie heute Rede und Antwort stehen. Sie können sich ja Ihre Redezeit gerne aufteilen wie damals die Fachkräfte Dr. Nußbaum und Henkel. Wir sind gespannt. CDU, SPD und der Finanzsenator müssen heute aber vor allem erklären, warum sie ohne Not die finanziellen Auswirkungen des Zensusschocks verschlimmert haben. Warum haben Sie die rot-rot-grüne Vorsorge zur Abfederung des Zensusrisikos abgeschmolzen? Rot-Rot-Grün hatte nämlich in weiser Voraussicht eine doppelte Vorsorge getroffen. In unserer Finanzplanung hatten wir jährliche Mindereinnahmen eingestellt: 600 Millionen Euro für 2024, 310 Millionen Euro für 2025 und 320 Millionen Euro für 2026. Und weil wir befürchteten, dass das nicht reichen könnte, Kollege Schneider, haben wir auf Vorschlag von Finanzsenator Wesener zusätzlich noch eine Rücklage von 167 Millionen Euro geschaffen, und zwar um die Folgen über mehrere Jahre gestreckt abfedern zu können – wie man das so macht. Und was haben Sie gemacht, meine Damen und Herren von Schwarz-Rot? – Unsere Finanzplanung haben Sie in puncto Mindereinnahmen zwar zunächst übernommen, aber schon mit Ihrem Chaoshaushalt von 2024 und 2025 haben Sie die Vorsorge gekürzt, und zwar um 50 Millionen Euro in 2024 und 25 Millionen Euro im Jahr 2025. Wofür haben Sie das Geld eigentlich verplant, frage ich. Für Ihre größenwahnsinnige Olympiabewerbung, für Planungsmittel für Herrn Stettners Magnetschwebebahn, für ein teures 29-Euro-Ticket statt der Rabattierung des Deutschlandtickets? Oder doch einfach nur dafür, Ihre pauschalen Minderausgaben und ungedeckten Schecks ein klein wenig kleinzurechnen?
Aber damit noch nicht genug. Sie haben dann noch die echte Zensusrücklage in Höhe von 167 Millionen Euro beim Titel 35925 vollständig entnommen. Aber auch das reichte Ihnen nicht. Gerade erst vor drei Wochen haben Sie mit dem zweiten Nachtragshaushalt die schon einmal abgesenkten Mindereinnahmen für 2024 um weitere 150 Millionen Euro abgesenkt. Damit haben Sie das Zensusrisiko allein für diesen Doppelhaushalt um sage und schreibe 392 Millionen Euro erhöht. Das ist unseriös. Das ist einzig und allein Ihre politische Verantwortung. Um Ihr Haushaltschaos in den Griff zu kriegen, das muss man so deutlich sagen, ist Ihnen offensichtlich jedes Mittel recht. Wir Linke sagen, diese Haushaltspolitik ist konzeptlos, und sie ist verantwortungslos. Sie fahren, um ein Bild zu bemühen, mit Vollgas auf eine Abbruchkante unserer öffentlichen Finanzen zu. Im nächsten Jahr summiert sich das uns zumindest heute schon bekannte Defizit auf circa 3 Milliarden Euro. Und die PMA für 2025 wird diese Unterdeckung nicht vollständig abbilden. Das wissen Sie auch. Und wenn Sie sich im Herbst, wie angekündigt, auf die Belegung verständigen, wird das nicht ausreichen. Hinzu kommen dann noch Risiken im Personalbereich, zum Beispiel wegen der Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht zur A-Besoldung.
Herr Regierender Bürgermeister! Wie lange wollen Sie diesem Haushaltschaos und dieser Vollgasfahrt auf die Abbruchkante eigentlich noch zusehen, frage ich mich. Wie viele Hiobsbotschaften im fast Vier-Wochen-Takt braucht es eigentlich noch, bis Sie Ihre Koalition zur Vernunft bringen? Wir brauchen zusammen mit dem Statusbericht per 30. Juni und den dann hoffentlich vorliegenden genauen Zensusdaten vom Bundesfinanzministerium und vom Statistischen Bundesamt einen echten Kassensturz, und zwar in Form eines Nachtragshaushalts. Ihr Haushaltschaos und die Risiken sind so groß und von solcher Tragweite, dass hier im Parlament entschieden werden muss, wie es weitergeht, hier in der Öffentlichkeit und nicht in der Klosterstraße oder in Hinterzimmern der Koalition. Wenn wir das tun, erwarten wir von Ihnen nicht nur Vorschläge für Kürzungen. Wir erwarten von Ihnen endlich auch Aussagen über die Verbesserung der Einnahmen. Wie wollen Sie die mehr als 900 Millionen Euro echte Steuerschulden reinholen? Wie wollen Sie die unbesetzten Stellen bei den Finanzämtern besetzen? Wie wollen Sie die Steuerhinterziehung besser bekämpfen? Wie wollen Sie die Steuerprüfquoten wieder anheben? Und wann kommt endlich der Gesetzentwurf zur Erhöhung der Grunderwerbsteuer? Anders gesagt, die Berlinerinnen und Berliner brauchen ein Mindestmaß an Planungssicherheit, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit. Ohne zeitnahe politische Entscheidungen fahren Sie die soziale Infrastruktur unserer Stadt vor die Wand und sorgen für Bauruinen in unserer Stadt. Daran kann doch niemand Interesse haben. Ich bitte Sie, kehren Sie auf den Pfad haushälterischer und finanzpolitischer Vernunft zurück. Das hat Berlin einmal aus der Not heraus ausgezeichnet. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. – Vielen Dank!