Offener Strafvollzug
Im Koalitionsvertrag von SPD, Linken und Grünen steht der hier schon zitierte schöne Satz: Der Anspruch bleibt: Der offenen Vollzug ist Regelvollzug. Ich würde sagen, dass dieser Satz keine Revolution ist. Das ist seit vielen Jahren geübte Praxis.
Aus dem Vorab-Wortprotokoll
2. Sitzung
lfd. Nr. 1:
Aktuelle Stunde
gemäß § 52 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin
„Der offene Strafvollzug im Kontext der inneren Sicherheit Berlins.“
(auf Antrag der AfD-Fraktion)
Präsident Ralf Wieland:
Herr Kollege Schrader, bitte schön!
Niklas Schrader (LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Koalitionsvertrag von SPD, Linken und Grünen steht der hier schon zitierte schöne Satz:
Der Anspruch bleibt: Der offenen Vollzug ist Regelvollzug.
Ich würde sagen, dass dieser Satz keine Revolution ist. Das ist seit vielen Jahren geübte Praxis. Auch in Berlin war genau das über 30 Jahre lang die wie im ganzen Bundesgebiet geltende Rechtslage, denn bis zur Föderalismusreform galt auch in Berlin das Strafvollzugsgesetz des Bundes, in dem der offene Vollzug Regelvollzug war. Jetzt sind die beiden Vollzugsarten gleichrangig nebeneinandergestellt, Kollege Kohlmeier hat es beschrieben. Ich finde, das ist ein guter Vorsatz der neuen Koalition, aber kein Umsturz der Verhältnisse.
Dieser Satz ist aber offenbar geeignet, eine aufgeregte Debatte auszulösen, wenn eine große bunte Zeitung darüber berichtet. Da werden Mythen und Schreckensszenarien verbreitet, die dann in der Welt herumgeistern. Damit will ich gleich am Anfang einmal aufräumen. Was ist der offene Vollzug? – Im offenen Vollzug muss man abends in den Bau und darf tagsüber raus – in der Regel, um zu arbeiten. Bevor das passiert, wird geprüft, ob die Person für solche Vollzugslockerungen geeignet ist. Das heißt, es sind eben nicht die üblen Straftäter, von denen eine Gefahr für die Sicherheit ausgeht, und zwar egal, ob es die Regel oder die Ausnahme ist; eine Prüfung findet immer statt.
[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]
Fast ein Viertel der Berliner Inhaftierten verbüßt bereits jetzt seine Strafe im offenen Vollzug. Das ist viel im bundesweiten Vergleich. Ich finde das gut. Wenn jetzt einige behaupten, der offene Vollzug an sich sei eine Gefahr für die Sicherheit, dann lege ich nahe, sich mit den Fakten auseinanderzusetzen. Der noch amtierende Senator für Justiz – Thomas Heilmann, CDU – hat die Praxis im offenen Vollzug evaluieren lassen, und siehe da: Die Missbrauchsquote, also der Anteil derjenigen, die nicht aus dem offenen Vollzug in die Anstalt zurückkommen, liegt bei 0,07 Prozent. Wer da behauptet, das sei eine Gefahr für die innere Sicherheit, macht Politik mit den Ängsten der Bürger, und das ist verantwortungslos.
[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Beifall von Dr. Hugh Bronson (AfD)]
Ich zitiere noch einmal den Herrn Senator dazu – Herr Kohlmeier hat es schon getan, aber ich finde, den schönen Satz kann man ruhig noch einmal wiederholen:
Der offene Strafvollzug ist keine liberale Verirrung, sondern ein hocherfolgreiches Konzept, wie Strafgefangene besser resozialisiert werden können. Das sagt ein CDU-Senator, und ich finde, das ist eine sehr schöne Formulierung. Da darf man sich schon darüber wundern, warum sich jetzt einige über diesen Satz so aufregen.
Ja, wir wollen den offenen Vollzug stärken. Gerade in Berlin kann man sagen, er ist eine Erfolgsgeschichte. Er hat die Aufgabe, dass Inhaftierte das Leben außerhalb der Gefängnismauern erproben und sich auf ein Leben nach der Entlassung vorbereiten können. Wir nennen das Resozialisierung. Das ist das Gleiche wie andere Dinge, die sich SPD, Linke und Grüne im Koalitionsvertrag gemeinsam vorgenommen haben. Kollegin Seibeld hat schon alles aufgezählt; ich habe auch noch ein paar Dinge. Wir haben die Ausweitung der Arbeitsmöglichkeiten im Vollzug, den Zugang zu digitalen Kommunikationsmitteln – denn jemand, der zehn Jahre lang im Bau nicht einen einzigen Computer gesehen hat, wird es schwer haben, sich im Leben danach zurechtzufinden –, die Einbeziehung von Strafgefangenen in die Rentenversicherung und nicht zuletzt die Verbesserung der Personalausstattung im Vollzug, damit die Menschen dort nicht nur verwahrt werden, sondern damit Betreuung, Therapie und Entlassungsvorbereitung vernünftig stattfinden können. Und jetzt sage ich Ihnen mal was:
[Georg Pazderski (AfD): Au ja! – Ja! von der CDU]
Resozialisierung ist nicht nur Teil eines menschenwürdigen Strafvollzugs – Sie nennen es Romantik. Jede Maßnahme, die Inhaftierten dabei hilft, nach der Haft wieder ein geregeltes, straffreies Leben zu führen, nützt uns allen, denn Resozialisierung verhindert Straftaten. Deswegen ist Resozialisierung auch die beste Sicherheitspolitik.
[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Beifall von Marcel Luthe (FDP)]
Ich komme auf die Haftplätze zu sprechen. Es wurde behauptet, Rot-Rot-Grün würde nun die Knäste dichtmachen oder keine neuen bauen, und dann würden die ganzen Straftäter frei herumlaufen. Was für ein absurder Unsinn!
[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]
Wir haben im Moment ausreichend Haftplätze, und wir haben eine ähnliche Auslastung wie vor einem Jahr. Da hat sich nicht sehr viel geändert. Wenn wir wirklich mehr brauchen sollten, gibt es die Möglichkeit, mit Brandenburg zusammenzuarbeiten. Eine der großen Berliner Vollzugsanstalten steht in Brandenburg, wer es noch nicht gemerkt hat. Beim Jugendarrest gibt es auch schon eine Kooperation, die gut funktioniert. Das wäre also möglich.
[Zuruf von Cornelia Seibeld (CDU)]
Man muss sich aber doch auch einmal anschauen, wer in den Berliner Gefängnissen alles sitzt, der da eigentlich gar nicht hingehört.
[Lachen bei der AfD – Zuruf von Holger Krestel (FDP)]
Dann stellt man fest – da sitzen jede Menge Ersatzfreiheitsstraftäter: Menschen, die zu Geldstrafen verurteilt wurden, Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen diese Geldstrafen nicht bezahlen können; sehr viele von ihnen sind Schwarzfahrer. Das sind ganz überwiegend von Armut betroffene Menschen, das sind Menschen, die Probleme in ihrem Leben haben. Ganz überwiegend sind es Menschen, die nicht kriminell oder gefährlich sind.
[Zuruf von der CDU: Ja, ja, ja!]
Und ich sage: Diese Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen, gehören nicht in den Knast, sondern sie brauchen Lebenshilfe und Sozialarbeit.
[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]
Deswegen sollte es unsere Aufgabe sein, den Anteil der Ersatzfreiheitsstrafe im Vollzug zu verringern, damit man sich dort um die wirklich Kriminellen kümmern kann. Wir haben uns im Koalitionsvertrag vorgenommen, Programme der Haftvermeidung wie Arbeit statt Strafe auszuweiten. Ich finde, das ist der richtige Weg, um den Berliner Vollzug zu entlasten.
Wenn es tatsächlich zu einer rot-rot-grünen Koalition auf Grundlage des ausgehandelten Koalitionsvertrags kommt, könnte man sagen: Diese Strafvollzugspolitik ist beispielhaft für die Grundausrichtung beim Thema öffentliche Sicherheit und Bürgerrechte. Wir wollen Straftaten verhindern und setzen auf gezielte Prävention. Wir wollen die Arbeitsbedingungen und die Besoldung bei Polizei, Feuerwehr und Justiz deutlich verbessern. Wir setzen beim Thema Kriminalität auf eine bessere Personalausstattung bei den Sicherheitsbehörden, auf mehr Präsenz, auf klassische personalintensive Ermittlungsarbeit insbesondere bei der Polizei. Wir setzen eben nicht auf spektakuläre, aber sinnlose Maßnahmen wie Frank Henkels Null-Toleranz-Zonen oder die Belagerung der Rigaer Straße durch die Polizei.
[Stefan Franz Kerker (AfD): Und wenn sie nicht gestorben sind!]
Wir setzen auch nicht auf wirkungslose Grundrechtseinschränkungen wie die Videoüberwachung.
[Zuruf von der FDP: Schlimm genug!]
Und ja, wo wir der Meinung sind, Befugnisse, Datenbanken oder Überwachungsmaßnahmen sind nicht erforderlich oder verhältnismäßig, sollten wir darauf verzichten oder sie anders regeln, völlig klar.
[Beifall bei der LINKEN]
Deswegen ist für mich auch völlig klar: sich um die Sicherheit zu kümmern und Grundrechte zu stärken, ist kein Widerspruch. Da werden wir uns nicht von irgendwelchen Populisten beirren lassen, die meinen, der Stammtisch sei der Ort, wo Sicherheitspolitik gemacht wird.
[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN Vereinzelter Beifall bei der SPD –Lachen bei der AfD – Zuruf von Frank Scheermesser (AfD)]
Wir hatten jetzt fünf Jahre lang zwei CDU-Senatoren, denen die Schlagzeile wichtiger war als die Lösung von Problemen. Herr Heilmann hat immer schöne Pressekonferenzen gemacht und stolz irgendwelche Projekte verkündet, die dann meistens im Sande verlaufen sind. Frank Henkel war eigentlich mehr weg als da. – Sein Stuhl ist schon wieder leer. Wir haben uns daran gewöhnt.
[Heiterkeit bei der LINKEN und den GRÜNEN]
Er wird höchstens als Dienstreisesenator in die Geschichtsbücher eingehen.
[Zuruf von der AfD: Das kann man nicht ertragen!]
Wenn es so sein sollte, wenn es Rot-Rot-Grün gibt, wäre ich froh und erleichtert, dass das endlich ein Ende hat. Ich glaube, die meisten Berlinerinnen und Berliner wären es auch. – Vielen Dank!
[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]