Quelle: rbb-online.de

Schulöffnungen nicht zum Lotteriespiel um Gesundheit machen

BildungGesundheitRegina Kittler

"Ich verstehe diese Entscheidung nicht und ich kann sie nicht unterstützen." sagt Regina Kittler zur Entscheidung der Bildungsverwaltung, die Schulen ab dem 11. Januar wieder schrittweise zu öffnen. "Es wäre verantwortungsvoll, die Schulen bis zu den Ferien zuzulassen und danach mit Wechselunterricht zu beginnen bis wir Inzidenzen unter 50 haben."

69. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 7. Januar 2021 (Sondersitzung zum Thema Corona-Pandemie)

Regina Kittler (LINKE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Lehren und Lernen unter Coronabedingungen kommt mir seit gestern wie ein Lotteriespiel um Gesundheit vor. Wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir gewinnen, würde ich gern von Christian Drosten berechnen lassen. Aber ob er das könnte, ist die Frage. Ich kann es nicht.

Gestern sagte Michael Müller noch im ARD-„Morgenmagazin“, also kurz vor der Senatssitzung, gesagt,

ich zitiere:

"Unsere Zahlen geben das noch nicht her, dass wir wieder in den Präsenzunterricht gehen können. Erst in etwa zehn Tagen kann man sagen, ob eventuell für die Grundschüler oder besondere Jahrgänge ab dem 18. Januar wieder Unterricht in Präsenz möglich ist."

Zitat Ende. – In zehn Tagen, das wäre der 16. Januar gewesen. Da wissen wir nämlich, wie sich Weihnachten und Silvester ausgewirkt haben und ob die Mutante des Coronavirus B.1.1.7 Fuß fasst.

In der Senatssitzung wurde dann plötzlich ganz anders entschieden. Ab dem 11. Januar sollen sich etwa die Hälfte der Oberschüler und Oberschülerinnen und die Berufsschüler und Berufsschülerinnen, also ca. 180 000, wieder hauptsächlich per ÖPNV auf den Weg in ihre Schulen machen. Eine Woche später sollen die Erst- bis Drittklässler hinzukommen und ab dem 25. Januar werden es dann insgesamt 450 000 sein, wenn man die Berufsschüler und Berufsschülerinnen dazuzählt. Wie sollen da die Berliner und Berlinerinnen nachvollziehen können, dass sie harte Kontaktbeschränkungen akzeptieren müssen? Wie sollen da Kinder und Jugendliche verstehen, dass Sie am Nachmittag ihre Freundinnen und Freunde nicht treffen dürfen, mit denen sie aber selbstverständlich am Vormittag in einem Klassenraum sitzen sollen? – Ich verstehe diese Entscheidung nicht und ich kann sie nicht unterstützen.

Ich habe die Kanzlerin, die MPK und auch unseren Regierenden anders verstanden. Die Kanzlerin appellierte an die Bevölkerung und forderte alle auf, sich ohne Wenn und Aber drei Wochen lang an verschärfte Maßnahmen zu halten, sonst würden auch wir einen Kollaps erfahren. – Es ist ernst, ja. Ich nehme es auch ernst. Es geht jetzt wirklich darum, die Gesundheit von Schülerinnen und Schülern, ihren Angehörigen und der Kolleginnen und Kollegen an den Schulen zu schützen, und das vor dem Hintergrund, dass sich auf den Intensivstationen der Krankenhäuser – wir haben das heute mehrfach gehört – die Fälle häufen und dass das Personal dort knapp wird und erschöpft ist. Auch vor dem Hintergrund, dass die Coronavirusmutante 50 Prozent mehr ansteckend ist und eben auch vor Schülerinnen und Schülern nicht Halt macht und hier wieder ein exponentielles Wachstum der Infektionen droht, wäre es doch verantwortungsvoll, die Schulen bis zu den Ferien zuzulassen und nach den Ferien mit Wechselunterricht zu beginnen bis wir Inzidenzen unter 50 haben.

Das entspräche auch der Fürsorgepflicht den Schülerinnen und Schülern und den Beschäftigten gegenüber.

Die Kollegien sind darauf vorbereitet. Sie haben viel Kraft investiert und neue Ideen entwickelt. Die Schülerinnen und Schüler können auch zu Hause lernen, wenn auch viele nicht so gut, wie in der Schule. Für die Schülerinnen, die uns sonst verloren gehen, kann es Sonderregelungen in Kleingruppen geben. Das haben Schulen wie die Fritz-Karsen-Schule in Neukölln längst vorbereitet. Es wird jetzt eine große Anzahl von Computern, insgesamt sind es 50 000 – und das ist nicht nichts, Herr Kollege – an Schülerinnen und Schüler verteilt, deren Eltern sich die eben nicht leisten können, zum Teil auch mit WLAN-Sticks. Der Lernraum Berlin hat jetzt 108 000 angemeldete Accounts und wird nun um das in drei Bundesländern bereits erprobte und funktionierende „Its Learning“ ergänzt.

Schülerinnen und Schüler sowohl in der Schule als auch zu Hause zu unterrichten, also in einer Mischung aus Präsenz- und Distanzunterricht, erzeugt für die Lehrkräfte eine enorme, zusätzliche Arbeitsbelastung.

Präsident Ralf Wieland:

Frau Kollegin! Ich darf Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kluckert zulassen.

Regina Kittler (LINKE):

Ich mache den Satz zu Ende, dann gern. – Die wird noch dadurch verschärft, dass die Mehrzahl der Schulen nicht über ein stabiles Internet verfügt, wir haben es gerade noch mal richtigerweise gehört, und die Lehrkräfte dann zwischen Schule und Zuhause pendeln müssen, weil sie nur dort einen ordentlichen Internetzugang haben. – Herr Kluckert.

Florian Kluckert (FDP):

Vielen Dank, Frau Kittler, dass Sie die Frage zulassen. Viele haben dazu gar nicht den Mut. Deshalb schon einmal herzlichen Dank dafür, die Frage stellen zu dürfen. Die Frage treibt mich tatsächlich um, die ist jetzt gar nicht polemisch gemeint.

Ich habe den Senat gefragt, weil Sie sagen, wir müssen die Schulen sicher machen, auch Tests in den Schulen durchführen, habe ich den Senat in einer Schriftlichen Anfrage befragt, für welche Tests er die Kosten übernimmt. Darauf habe ich als Antwort bekommen, er übernimmt die Testkosten für Personal in den Schulen und Kitas. In einer erneuten Anfrage habe ich gefragt, wie viele er denn übernommen hat, dazu hat er geschrieben: bisher gar keine. – Muss man daraus folgern – ich habe fünfmal nachgefragt, bisher keine Antwort bekommen, aber Sie sind ja Regierungskoalition –: Wurde in den Schulen überhaupt getestet oder wird in den Schulen gar nicht getestet?

Regina Kittler (LINKE):

Nun bin ich ja nicht im Senat. Falls Sie das noch nicht gemerkt haben, würde ich Ihnen das gern sagen wollen.

Aber soweit ich weiß, sind gestern 20 Busse unterwegs gewesen und haben getestet.

[Carsten Schatz (LINKE): Acht Busse, in 20 Schulen!]

Wie viele da getestet wurden, das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen. Gegenwärtig sind ja die Schulen einfach auch mal geschlossen. Was da im vorigen Jahr an Zahlen aufgelaufen ist, kann ich Ihnen auch nicht sagen. Da müssen Sie dann wirklich noch mal die Senatorin fragen.

Das tut mir sehr leid. Aber die bin ich nicht.

So. Also neben den Inzidenzen unter 50 – dabei war ich gerade – müssen wir auch eine funktionierende Teststrategie

[Paul Fresdorf (FDP): Als hätte er es gewusst!]

– genau! – für Schülerinnen und Schüler und Kolleginnen und Kollegen sowie Schutzausrüstung für die Kolleginnen und Kollegen an den Schulen haben. Schnelltests und FFP2-Masken müssen jetzt zur Verfügung stehen. In NRW bekommt übrigens jede Kollegin, jeder Kollege an jedem Diensttag zwei FFP2-Masken ausgehändigt. Ich glaube, das können wir auch. Die Lüftungsanlagen müssen ausreichend installiert sein, das kam hier heute auch schon mehrfach zur Sprache – sehr richtig. Da ist auch die Variante der Lüftungsanlagen, die das Max-Planck-Institut entwickelt hat und die jetzt für 200 Euro pro Stück in allen Grundschulen von Mainz installiert werden, eine Option.

Heute ist mehrfach betont worden, wie wichtig Präsenz-unterricht ist. Natürlich ist er wichtig. Schule als sozialer Raum ist unglaublich wichtig, aber welche sozialen Erfahrungen machen Schülerinnen und Schüler gerade? Dass ihre Gesundheit nicht so wichtig ist wie eine Klassenarbeit oder eine Klausur? Ist es nicht wichtig, jetzt erst einmal die Inzidenzen unter 50 zu bekommen, damit Infektionen auch wieder nachverfolgt werden können? Damit der Zustand vom Herbst sich nicht wiederholt, dass immer wieder ganze Jahrgänge in den Schulen in Quarantäne müssen, und das oftmals, nachdem sie gerade eine Woche wieder vor Ort waren.

Dieses Schuljahr ist kein normales Schuljahr, so wie das letzte es auch schon nicht war – da werden auch wieder Entscheidungen gefällt werden müssen, die Schulabschlüsse für einzelne Schülerinnen und Schüler gerecht ermöglichen.

Dieses nicht normale Schuljahr verlangt allen Beteiligten unglaublich viel ab, auch den Eltern. Sie brauchen mehr Unterstützung durch den Staat. Sie brauchen finanzielle Hilfen, Hilfen durch Jugendämter und Schulen, zusätzlichen bezahlten Urlaub, verkürzte vollbezahlte Arbeitszeiten, Homeoffice, wo es möglich ist. Dieses eben nicht normale Schuljahr sollte Schulen ermöglichen, in der Umsetzung von Bildung und Betreuung in der Zeit der Coronakrise weitgehend autonome Entscheidungen treffen zu können, die an die Bedingungen vor Ort – also das aktuelle Infektionsgeschehen, das vorhandene Personal, die zur Verfügung stehenden Räume und die technischen Möglichkeiten – angepasst sind.

Durch den Senat ist auch über die jetzige Regelung hinaus Rechtssicherheit zu schaffen, um den Schulen zu ermöglichen, dass nach coronabedingten Ausfällen und Einschränkungen auf Klassenarbeiten und Klausuren verzichtet werden und die Zeugnisbewertung zum Halbjahrs- bzw. Semesterende auf Basis der sonstigen Bewertung erfolgen kann. Ich bitte für die Linksfraktion die Senatorin dringlich, unsere Argumente zu bedenken, mit uns zu beraten und die gestern getroffene Entscheidung zu ändern.

Uns liegen hier vier Anträge zur Abstimmung vor. Warum wir den AfD-Antrag ablehnen werden, ging wohl aus meiner bisherigen Rede hervor.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Nee!
Sie haben nichts dazu gesagt! –
Stefan Evers (CDU) Das ist in der Koalition
nicht vorgesehen!]

– Dann haben Sie nicht zugehört! – Ergänzend will ich hinzufügen, dass die Begründung unter Bezug auf den Verband Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin schon mal durch den ZDF-Faktencheck untersucht wurde. Da können Sie gerne noch mal nachlesen, wenn Sie dazu etwas wissen wollen.

In den von CDU und FDP vorgelegten Anträgen finde ich einiges sehr unterstützenswert.

Präsident Ralf Wieland:

Frau Kollegin! Sie müssten zum Ende kommen.

Regina Kittler (LINKE):

Was?

Präsident Ralf Wieland:

Sie müssten zum Ende kommen!

Regina Kittler (LINKE):

Sofort! – Zu den Vorschlägen der FDP habe ich mich sowohl hier als auch im Ausschuss schon ausreichend geäußert. Aus dem Antrag der CDU kann ich mich der Aussetzung des Präsenzunterrichts und der Forderung nach Schnelltests bei Rückkehr in die Schulen anschließen, auch das habe ich bereits begründet. Die darüber hinaus vorgeschlagenen Maßnahmen werden aber entweder gerade erfüllt oder lassen sich in der vorgeschlagenen Zeitschiene wirklich nicht bewältigen.

In der präsenzfreien Zeit, also in einem Monat, alle Schulen an Breitband anzuschließen – Entschuldigung – und denen dann noch ein leistungsfähiges WLAN zur Verfügung zu stellen, ist eine Forderung, von der Sie selbst wissen, dass das blanker Populismus ist.

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