Sind wir zufrieden mit dieser neuen und anderen Zukunft?
Rede der aufarbeitungspolitischen Sprecherin, Anne Helm, zur Aktuellen Stunde "35 Jahre Friedliche Revolution und Mauerfall"
Heute vor 35 Jahren wurde in Berlin Geschichte geschrieben.
Der 9. November 1989 markiert einen historischen Punkt, der nicht nur für Deutschland, sondern auch für Osteuropa einen zentralen Wandel eingeleitet hat. Natürlich haben nicht die Berliner:innen allein, sondern alle Menschen, die im Herbst 1989 durch friedliche Demonstrationen den Mauerfall herbeiführten, Geschichte geschrieben.
Dieser Tag öffnete die Tür für eine neue und andere Zukunft. Wie diese Zukunft genau aussehen sollte, darüber war man sich alles andere als einig, aber eines war allen gemeinsam klar: So wie es war, konnte es nicht bleiben. Es gab ein Gefühl der Selbstermächtigung. An den Runden Tischen wurde rege diskutiert wie wir demokratisch zusammenleben wollen. Alles schien möglich!
35 Jahre später stellen sich nun viele Menschen die Frage: Sind wir eigentlich zufrieden mit dieser neuen und anderen Zukunft, für die wir damals auf die Straße gegangen sind?
Jahrestage wie heute werden meist dafür genutzt, um das Positive der Geschichte herauszustellen, um Einigkeit und Wiedervereinigung zu proklamieren und um demokratische Errungenschaften zu feiern. Das ist gut so, denn wir brauchen diese Erzählungen von Mut und Demokratie, von Veränderung und Entwicklung, von Kämpfen und Siegen für Recht und Freiheit.
Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass es richtig ist gegen Unterdrückung aufzubegehren und dass Demokratie nur durch Demokratinnen und Demokraten lebt.
Die Geschichte des Mauerfalls ist der Beweis dafür, dass Veränderungen möglich sind, wenn wir zusammenstehen und uns für Gerechtigkeit einsetzen.
Aber gleichzeitig wir haben nicht das Recht zu vergessen, dass wir den 9. November nicht unbeschwert feiern können, weil mit ihm auch die Pogrome 1938 verbunden sind, die als Auftakt der Shoa begriffen werden müssen.
Und auch die Erzählung von Friedlicher Revolution, Mauerfall und Wiedervereinigung ist eine Unvollständige, wenn sie ausschließlich als Erfolgsgeschichte erzählt und erinnert wird.
Die Wende war für viele ein Aufbruch in eine neue, gemeinsame Zukunft und gleichzeitig bedeutete sie für viele aber auch einen schmerzhaften Umbruch. So groß die Freude und die Hoffnung damals waren, sie sind verbunden mit Enttäuschungen, Versäumnissen und nicht gehaltenen Versprechungen.
Wir stecken in einer tiefen gesellschaftlichen Krise. Die Demokratie wird zunehmend in Frage gestellt. Autokratische Bewegungen und Regime sind auf dem Vormarsch und rechtsradikale Terrorstrukturen planen den Umsturz der Demokratie in Deutschland.
Die Blicke der Medien richten sich vor allem auf Ostdeutschland und zeigen mit dem Finger auf Klischeebilder von undankbaren "Jammerossis", die die Demokratie nicht verstanden hätten.
Und rechte Führer aus dem Westen setzen die DDR mit der heutigen Bundesrepublik gleich und behaupten, sie seinen im Osten deshalb erfolgreich, weil die Ossis die Diktatur wieder erkennen würden. Das erleben wir hier auch in Form der Zwischenrufe von den rechten Wessis „Genau wie heute!“ bei den Zeitzeugenberichten.
Beide Erzählungen sind falsch. Statt den Bürger:innen immer wieder vorzuwerfen, dass sie nicht demokratisch genug eingestellt wären, sollten wir lieber die Frage zulassen, wie demokratisch die Lebenswirklichkeit dieser Menschen in den letzten 35 Jahren war.
Eine der bitteren Erfahrungen nach der Wende war, dass Institutionen und Führungspositionen im Osten hauptsächlich durch westdeutsche Menschen besetzt wurden.
Statt darauf zu vertrauen, dass auch Ostdeutsche das nötige Wissen, die Erfahrung und das Engagement haben, um in der neuen Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen, wurden Führungsrollen fast ausschließlich an Menschen aus dem Westen vergeben. Dies betraf nicht nur politische Ämter, sondern auch Spitzenpositionen in Unternehmen, Universitäten, Krankenhäusern, in der Verwaltung oder in den Medien.
Oft hatten die neuen Führungskräfte keinerlei Bezug zur Region und entsprechend auch kein Verständnis für lokale Besonderheiten oder Bedürfnisse.
Viele qualifizierte Ostdeutsche, die sich engagiert und gut ausgebildet in die neue Gesellschaft einbringen wollten, wurden so aus Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Außerdem wurden etliche Frauen aus Arbeiten herausgedrängt, die nach westdeutscher Auffassung "Männerjobs" seien, und ihnen auf diese Weise ihre berufliche Zukunft genommen. In diesem Vorgehen liegt ein essenzieller Keim für Enttäuschung und Entfremdung, und für das Gefühl, nicht "vereint", sondern "übernommen" worden zu sein.
Die Westdominanz in den Chefetagen hat außerdem die Verbundenheit vieler Ostdeutscher mit den neuen Institutionen geschwächt.
Durch das Gefühl, dass ihre Perspektiven nicht gehört und ihre Interessen nicht ernst genommen wurden, verloren Menschen ihr Vertrauen in das politische System und die staatlichen Strukturen.
Auch Medien haben ihren Teil dazu beigetragen. Über Jahrzehnte hat ein westdeutscher Blick auf "die Ostdeutschen" den medialen Raum dominiert und es wurden völlig verzerrte Bilder in Umlauf gebracht und reproduziert. Auch dadurch wurde jede Menge Vertrauen verspielt. Während westdeutsche Perspektiven ab 1990 zum neuen Maß der Dinge wurden, gab es kaum Wertschätzung für ostdeutsche Geschichten und Lebensleistungen - weder ideell noch materiell.
Wenn heute von „Strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland“ gesprochen wird, darf man nicht vergessen, dass diese Entwicklung Folge politischer Entscheidungen ist.
Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR kein Wirtschaftsaufbau stattfand, sondern die zweite Deindustrialisierung seit 1945. Statt wie mit dem Marshall-Plan der West-Alliierten im Erleben der Menschen Demokratisierung und wirtschaftlichen Aufschwung direkt miteinander zu verknüpfen, wurden westdeutsche Goldgräber auf das Land losgelassen und griffen sich, was nicht niet- und nagelfest war. Dabei hätte man aus der Geschichte der BRD die richtigen Lehren ziehen können.
Wenn wir heute über den Mauerfall sprechen, müssen wir auch darüber reden, dass die innerdeutsche Grenze auch noch heute, 35 Jahre später, (das sind ungefähr 2 Generationen) existiert. Nicht physisch, aber auf etlichen anderen Ebenen. Und damit meine ich nicht nur, dass im Westen kaum jemand weiß, wer Pittiplatsch und Schnatterinchen sind.
Die unsichtbare Grenze zeigt sich gravierend in niedrigeren Löhnen, einer ungerechten Rentenstruktur oder darin, dass Ostdeutsche von ihren Eltern wenig bis nichts vererbt bekommen. Solange diese Ungleichheiten bestehen und es keine politischen Mehrheiten für deren Überwindung gibt, ist es kaum verwunderlich, dass auf der Verliererseite Zweifel an der Demokratie aufkeimen.
Wenn wir über den Mauerfall sprechen und über die Wiedervereinigung, die damit eingeläutet wurde, dann sollten wir auch darüber reden, dass dieser Prozess längst nicht abgeschlossen ist. Ein Blick in die Führungsetagen ist nach wie vor aufschlussreich. Der Berliner Senat beispielsweise besteht aus elf Menschen: nur drei von ihnen haben eine Ost-Biografie. Keine ungewöhnliche Quote leider.
Wir müssen uns diese Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten bewusst machen und gemeinsam daran arbeiten, die Mauern weiter abzubauen, die nach wie vor bestehen – seien es die wirtschaftlichen, sozialen oder auch mentalen Mauern. Wenn wir heute über den Mauerfall und die damit verbundene Einheit sprechen, dann sollten wir dies nicht nur als Geschichte tun, sondern als Auftrag.