Quelle: rbb-online.de

Nicht nur zur Europawahl - Nationalismus entgegentreten

Demokratie und BürgerbeteiligungEuropaUdo Wolf

"Die EU kann auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn sie demokratischer, wenn sie sozialer und wenn sie ökologischer wird.", sagt unser Fraktionsvorsitzender Udo Wolf.

42. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 23. Mai 2019

Aktuelle Stunde "70 Jahre Grundgesetz und ein starkes Europa"

Rede von Udo Wolf (LINKE):

Danke, Herr Präsident! – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Berliner Abgeordnetenhaus diskutiert über Europa und 70 Jahre Grundgesetz. Die AfD redet über sich selbst.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN]

Das war erwartbar widerlich und faktenbefreit.

Und jetzt zum Thema: Dass auf einer Metaebene sich alle demokratischen Parteien zum Grundgesetz und zum Zukunftsprojekt Europa bekennen, ist ja erst mal gut.

[Zurufe von der AfD]

Aber unterhalb der allgemeinen Bekenntnisse zu Europa gibt es ja auch starke politische Differenzen zwischen den Parteien, wie sich die Politik in Europa – Danke, keine Zwischenfragen! – und die EU weiterentwickeln sollen.

Eine der Grundfragen lautet doch: Begreifen wir Europa in erster Linie nur als gemeinsamen Wirtschaftsraum? Ist Europa nur das Kampffeld ökonomischer und nationalstaatlicher Interessen, oder sollte in Anerkenntnis leidvoller europäischer Geschichte Europa nicht in erster Linie ein demokratischer Sozialraum sein, in dem die Ökonomie der sozial-ökologischen Nachhaltigkeit verpflichtet wird. Wir sind fest davon überzeugt, dass die EU auf Dauer nur erfolgreich sein kann, wenn sie demokratischer, wenn sie sozialer, wenn sie ökologischer wird.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN]

Die Troika-Politik der letzten Jahre dagegen, also die Machtpolitik des ökonomisch starken Kerneuropas auf Kosten der Peripherie, hat der europäischen Idee schweren Schaden zugefügt. Das europäische Erstarken des Rechtspopulismus ist ja kein Naturgesetz. Dafür gibt es ja Gründe.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Ja, ihr! –
Lachen bei der AfD]

Und da, Frau Bentele, Herr Dregger, Herr Czaja, schauen wir aus aktuellem Anlass mal nach Österreich! Es soll Ihnen eine Lehre sein.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN]

Wer dem verheerenden Nationalismus, den sozialdarwinistischen Ideen und der rechtspopulistischen Hetze nicht entschieden entgegentritt,

[Zuruf von Kurt Wansner (CDU)]

sondern wie Ihre Schwesterpartei, Herr Dregger, Herr Wansner, die ÖVP, dafür Verständnis zeigt, so etwas befördert und obendrein mit diesen FPÖ-Leuten koaliert, der muss sich über Euro-Skeptizismus nicht wundern.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN –
Henner Schmidt (FDP): In Venezuela ist es besser! –
 Georg Pazderski (AfD): Kommen Sie zur Sache!]

Und was mich am allermeisten erschüttert, ist der Umstand, dass es erst dieses Ibiza-Video gebraucht hat, dass Kurz diese Truppe von Obskuranten, Rechtsextremen und Identitären aus der Regierung wirft.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN –
Zurufe von der CDU, der AfD und der FDP]

Und wegen dieser Straches, Salvinis, Orbáns und ihren deutschen Ablegern ist es so wichtig, immer wieder und nicht nur vor Europawahlen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus entschieden entgegenzutreten.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN –
Ronald Gläser (AfD): Mit der Keule in der Hand!]

Es ist wichtig, das nicht nur mit Reden in diesem Parlament zu tun, sondern immer wieder auch im Alltag und auf der Straße. Nationaler Egoismus und Nationalismus sind vollkommen untauglich für die Lösung der Probleme, vor denen wir stehen. Das ist die Botschaft der Zehntausende, die am vergangenen Sonntag auf die Straße gegangen sind. Das ist die Botschaft von „Fridays for Future“. Das ist die Botschaft der Flüchtlingsinitiativen, der Gewerkschaften,

[Heiko Melzer (CDU): Der Baseballschläger-
Werbung von der SPD!]

der Unteilbar-Demonstration und vieler anderer Initiativen, die aktiv an einem solidarischen Europa arbeiten.

[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN –
Frank-Christian Hansel (AfD):
Die Quittung kriegen Sie am Sonntag!]

Die Abschottungspolitik der Europäischen Union ist grundfalsch.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Sie ist nicht nur inhuman, sie ist nicht nur unchristlich, sie wird auch nicht funktionieren. Egal, wie hoch die Mauern sind,

[Stefan Franz Kerker (AfD): Mit Mauern
kennt ihr euch ja aus!]

egal, wie gefährlich die Wege und wie abschreckend die Grenzen sind, die Menschen werden weiter vor Krieg, Verfolgung und Hunger flüchten,

[Frank-Christian Hansel (AfD): Richtig!]

und wem Humanität keine Floskel ist, der muss diesen Menschen auch Asyl und Perspektive gewähren.

[Beifall bei der SPD und den GRÜNEN –
Vereinzelter Beifall bei der SPD –
Georg Pazderski (AfD): 4 Milliarden Menschen! –
Kurt Wansner (CDU): Über Flüchtlinge
wissen Sie ja Bescheid!]

Und zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes, Herr Dregger, muss eben auch gesagt werden, dass vor 27 Jahren das Grundrecht auf Asyl zum ersten Mal massiv eingeschränkt wurde. Ein sehr bitteres Kapitel der 70-jährigen Verfassungsgeschichte!

[Georg Pazderski (AfD): Habt ihr nicht
die Flüchtlinge an den Westen verkauft?]

Das Grundrecht auf Asyl in der Verfassung war eine Lehre aus dem Faschismus, und die Verfassungsänderung vor 27 Jahren geschah vor dem Hintergrund rechtsextremer Wahlerfolge und Mobilisierung. Merken Sie was?

[Frank-Christian Hansel (AfD): Ja,
Sie merken nichts mehr!]

Rechtspopulisten und Rechtsextreme gibt es immer noch,

[Stefan Franz Kerker (AfD):
Kommunisten leider auch!]

die heißen jetzt nur anders, aber Verfassung und Verfassungswirklichkeit sind dadurch deutlich ärmer geworden. Daraus sollte man lernen. Man bekämpft Rechtsextreme und Rechtspopulisten nicht dadurch, indem man einen Teil ihrer Forderungen erfüllt.

[Beifall bei der LINKEN –
Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN – Marc Vallendar (AfD):
Mit dem Baseballschläger, was?]

Berlin steht mit seiner Weltoffenheit, Diversität und Liberalität gegen dumpfen Nationalismus und Rechtspopulismus. Berlin steht für die Idee eines solidarischen Europa.

[Beifall bei der LINKEN]

Und Berlin ist nicht allein. Es sind überall in Europa die großen Städte, die sich dem nationalistischen Trend in ihren Ländern in den Weg stellen und in denen Menschen für mehr Integration, für mehr Demokratie, für soziale Grundrechte und gegen nationale Abschottung eintreten, und deshalb macht es auch Sinn, dass sich die europäischen Städte in dieser Auseinandersetzung enger zusammenschließen und dass sie sich auch klar positionieren.

Berlin ist Anfang des Jahres dem Netzwerk „Solidarity Cities“ beigetreten. Berlin hat sich bereit erklärt, aus Seenot gerettete Geflüchtete aufzunehmen.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN]

Am 13. und 14. Juni findet im Roten Rathaus der Kongress „Sichere Häfen“ statt. Ich freue mich sehr, dass der Regierende Bürgermeister die Schirmherrschaft für den Seebrücken-Kongress übernommen hat.

[Beifall bei der LINKEN und der SPD –
Thorsten Weiß (AfD): Der Mann
macht doch gar nichts!]

So traurig der Grund für dieses Treffen ist, so ermutigend ist, wie Menschen überall in Europa nicht wegschauen, sondern unter hohen persönlichen Risiken handeln und helfen. Danke dafür!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN –
Gunnar Lindemann (AfD): Schlepper!]

Und wir erwarten selbstverständlich, dass Seehofer endlich seine Blockade aufgibt und uns das tun lässt, wozu wir uns bereit erklärt haben, nämlich Menschen zu retten, statt sie an Europas Grenzen sterben zu lassen. Wir können uns doch gar nicht genug bedanken für die Arbeit der zivilen Seenotrettung von Sea-Watch und Seebrücke. Sie zu kriminalisieren, ist eine Schande.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Und die Menschen, die im Mittelmeer andere Menschen vor dem Ertrinken retten, die retten auch den menschlichen Anstand und die Seele Europas.

[Zurufe von der AfD]

Viele Menschen in Europa verfolgen mit Interesse, wie Mieterinnen und Mieter sich in unserer Stadt gegen steigende Mieten wehren. Immobilienspekulation, spekulativ getriebene Mietsteigerungen sind natürlich kein exklusives Berliner Problem.

[Holger Krestel (FDP): Baut doch
endlich Wohnungen! –
Stefan Franz Kerker (AfD): Ihr seid doch
in der Regierungsverantwortung!]

Das alles hat auch damit zu tun, wie die Europäische Union heute verfasst ist.

[Zuruf von der AfD: Das hat
mit den offenen Grenzen zu tun!]

Es ist das Ergebnis einer Politik, die europaweit auf die Deregulierung der Märkte gesetzt hat und die aus der Finanzmarktkrise nicht wirklich gelernt hat.

[Heiko Melzer (CDU): Sie wissen selbst nicht,
was Sie da vortragen!]

Frau Bentele! Herr Dregger! Da kommt nach dem Asylrecht wieder der 70-jährige Geburtstag des Grundgesetzes ins Spiel, denn die Mütter und Väter des Grundgesetzes waren weit weniger marktgläubig als die Konstrukteure des europäischen Binnenmarkts. Ich finde zwar, dass es dem Grundgesetz noch an einigem mangelt, insbesondere an sozialen Grundrechten, aber einen wichtigen Grundsatz kennt das Grundgesetz: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

[Beifall bei der LINKEN]

Das heißt, Eigentümer dürfen eben nicht einfach alles machen, was sie wollen.

[Georg Pazderski (AfD): So ein Quatsch!
Das hat er aus der DDR übernommen. –
Zuruf von Holger Krestel (FDP)]

Das Grundgesetz sieht vor, dass der Staat eingreifen kann oder soll, wo durch den Gebrauch des Eigentums das Wohl der Allgemeinheit verletzt wird, und das Grundgesetz nennt dafür auch Instrumente, zum Beispiel Artikel 14 und 15.

[Georg Pazderski (AfD): Die Linken aus
dem Westen sind die schlimmsten!]

Die Debatte über das Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ hat uns in den vergangenen Wochen

[Frank-Christian Hansel (AfD): Hat Berlin
massiv geschadet!]

einen tiefen Einblick in das Verfassungs- und Demokratieverständnis in einigen Teilen unserer Gesellschaft gewährt.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Genau! –
Weitere Zurufe von der AfD und der FDP]

Da geht es zuweilen skurril zu. Die Chefin des BBU schrieb uns sogar, dass der Artikel 15 zwar im Grundgesetz steht, aber in Berlin nicht gilt. Teile des Grundgesetzes sollen in Berlin nicht gelten? Ist Berlin wieder eine selbstständige politische Einheit? Haben wir irgendetwas verpasst?

[Zurufe von der CDU, der AfD und der FDP]

Die FDP will ganz auf Nummer sicher gehen und den Artikel kurzerhand abschaffen. Na, da hätte ich mir schon ein bisschen mehr Verfassungstreue gewünscht, Herr Czaja.

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Ja, verschiedene Verfassungsgüter müssen in einer rechtsstaatlichen Demokratie immer wieder miteinander abgewogen werden.

[Zuruf von der AfD]

Aber Artikel 14 und 15 stehen als Grundrechte in der Verfassung. Das ist ja nicht Pillepalle.

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und die Instrumente zu ihrer Durchsetzung stehen aus konkreter historischer Erfahrung und nicht ohne Grund im Grundgesetz, und das ist auch gut so.

CDU und FDP müssen selbst wissen, ob die Rosinenpickerei beim Grundgesetz oder beim gemeinsamen Europa ihre Glaubwürdigkeit erhöht.

[Sibylle Meister (FDP): Was haben Sie denn getan? –
Dr. Robbin Juhnke (CDU): Lächerlich!]

Der Wert des Bekenntnisses zur Verfassung im Ganzen zeigt sich eben oft im konkreten Umgang mit den Einzelnormen.

[Zurufe von der CDU, der AfD und der FDP]

Weder Europa noch das Grundgesetz müssen mit Pathos besungen werden. Wir müssen damit ernsthaft arbeiten.

[Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Der gemeinsame Markt braucht Regulierung. Europa braucht eine soziale Säule. Wir brauchen gemeinsame Steuer-, Sozial- und Umweltstandards und die Sozialpflichtigkeit des Eigentums, Menschen-, Grund-  und Freiheitsrechte.

[Unruhe]

Präsident Ralf Wieland:

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um ein bisschen mehr Ruhe.

Udo Wolf (LINKE):

Ich komme zum Schluss. – Freiheitsrechte brauchen zum Geburtstag keine folgenlosen Bekenntnisse, sie müssen durchgesetzt und verteidigt werden.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN]

Meine Damen und Herren draußen an den Endgeräten! Sie hören wahrscheinlich diese ganze Pöbelei von der rechten Seite nicht. Deswegen möchte ich Sie doch ganz herzlich bitten, am kommenden Sonntag wählen Sie bitte proeuropäisch,

[Lachen bei der AfD –
Zurufe von der AfD]

wählen Sie demokratisch,

[Lachen bei der AfD und der FDP –
Stefan Franz Kerker (AfD): Nie wieder
Kommunismus!]

am besten wählen Sie links, auf jeden Fall bitte links von der Mitte! Das ist aktuell und auch künftig der beste Schutz für die Verfassung. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und
den GRÜNEN –
Zurufe von der AfD]

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