Wahlrecht muss unabhängig von der Staatsangehörigkeit sein

Elif Eralp
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"Aber das Wahlrecht muss unabhängig von der Staatsangehörigkeit garantiert sein. Es kann Gründe, dafür geben, warum sich jemand nicht einbürgern lässt, wie mein Vater beispielsweise. Aber es kann doch nicht sein, dass er nach 40 Jahren in Almanya immer noch nicht wählen darf. Der Grundsatz muss lauten: Wer hier lebt und von Gesetzen und Regierungshandeln betroffen ist, muss über das Zustandekommen mitentscheiden dürfen!" die partizipationspolitische Sprecherin Elif Eralp in ihrer Rede zur Aktuellen Stunde.

12. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses, 19.05.2022

Zur Aktuellen Stunde: „Berlin: Einwanderungs- und Zufluchtshauptstadt mit Herz“

Elif Eralp (DIE LINKE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben damit angefangen, dass Sie Berlinerin mit Herz sind. Gerade hat die AfD einmal wieder bewiesen, dass sie keines hat und für sie Hetze statt Humanität gilt.

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Putins auf die Ukraine hat eine der größten Fluchtbewegungen Europas ausgelöst. Die immer noch täglich in Berlin ankommenden Geflüchteten werden aufgenommen. Unterkünfte, Beratungen, Sozialleistungen, gesundheitliche und schulische Betreuung und vieles mehr werden zur Verfügung gestellt, anfangs sogar ganz ohne Unterstützung vom Bund. Berlin leistet viel, wie die Kolleginnen schon ausführten.

Was mich besonders freut, ist der unermüdliche Einsatz so vieler Berliner und Berlinerinnen und ihre Solidarität. Meine Eltern sind selbst vor 40 Jahren nach Deutschland geflohen, meine Mutter hochschwanger mit mir. Daher weiß ich, wie wichtig das ist. Daher möchte auch ich mich bei all den Ehrenamtlichen, NGOs, migrantischen Organisationen und bei all denjenigen, die auf Defizite hinweisen und politische Forderungen formulieren, bedanken.

Auch Katja Kipping und ihrem Haus sowie allen anderen Senatsmitgliedern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Bezirken gilt unser Dank. Es ist unerlässlich, dass wir alle an einem Strang ziehen, denn die Herausforderungen werden uns auch die nächsten Jahre begleiten. Es ist eine gesamtstädtische Aufgabe, die Zugänge zu Beschäftigung, zu Kitas, zu Schulen, zu Arbeits- und Gesundheitsversorgung sowie echte Teilhabe abzusichern und diskriminierungssensibel aufzustellen.

Es ist großartig, dass aktuell vieles möglich gemacht wird, auch von staatlicher Seite. Ich muss aber auch sagen, dass es enttäuschend ist, dass dies nicht so war, als es um Schutzsuchende aus Syrien, Afghanistan oder Afrika ging. Zwar entstand auch 2015 deutschlandweit eine zivilgesellschaftliche Willkommensbewegung, aber dem berühmten Satz „Wir schaffen das“ der damaligen Kanzlerin Angela Merkel folgte eine Abschottungspolitik auf europäischer und deutscher Ebene.

Der Diskurs wurde von klar völkerrechtswidrigen Obergrenzen und schnellverfahrenden Ankerzentren geprägt, und Narrative wie die einer drohenden Einwanderung in deutsche Sozialsysteme machten vor allem durch die AfD die Runde.

Der damalige Innenminister Seehofer sinnierte darüber, dass man wegen der Gefahr der Einwanderung von Terroristen genau wissen müsse, wer ins Land komme.

Die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte und etliche weitere Asylrechtsverschärfungen sowie der menschenrechtsmissachtende EU-Türkei-Deal folgten.

Was ist der Unterschied zwischen damals und heute? – Dass es sich jetzt überwiegend um Menschen handelt, die von vielen als dem eigenen Kulturkreis nahe angesehen werden und damals um Menschen aus muslimisch geprägten Ländern und dem globalen Süden. Für uns muss gelten, dass es keine Ungleichbehandlung von vor Krieg und vor Verfolgung fliehenden Menschen geben darf. Da sind wir uns in der Koalition einig.

Deswegen sollten wir uns auch gemeinsam beim Bund dafür einsetzen, dass das Asylbewerberleistungsgesetz abgeschafft wird. Nicht nur Geflüchtete aus der Ukraine sollten in die Grundsicherung wechseln dürfen, sondern alle. Als Land Berlin sollten wir auch eine umfassende Vorgriffsregelung im Hinblick auf das von der Bundesregierung versprochene Chancen-Aufenthaltsrecht zur Verhinderung von Kettenduldung schaffen.

Ja, es gibt beim Bleiberecht für junge Menschen im Vorgriff auf Bundesregelungen schon Verbesserungen, aber auch beim Chancen-Aufenthalt sollten wir entsprechend der niedersächsischen Lösung den Betroffenen durch Titelerteilung bescheinigen, dass sie nicht ausreisen müssen, und den Zugang zur Arbeit ermöglichen. Damit es nicht zur Ungleichbehandlung kommt, braucht es auch eine Bleiberechtslösung für Drittstaatlerinnen und Drittstaatler mit befristeten ukrainischen Aufenthaltstiteln.

Sie haben genauso wie alle anderen ihre aktuelle Heimat und Lebensperspektive verloren und zur unsicheren Bleiberechtslage auch noch Racial Profiling in Zügen durch die Bundespolizei erleben müssen. Da bin ich unserer Justizsenatorin Lena Kreck sehr dankbar, dass sie den Bund auf die Rechtswidrigkeit dieser Maßnahmen hingewiesen hat.

Auch Berlin muss seine Hausaufgaben machen. Ich appelliere an den Bund, ein Bleiberecht für diese Gruppe zu schaffen, aber ansonsten muss Berlin seiner humanitären Verantwortung nachkommen und einspringen. Ich hoffe, dass es in der vom Senat dazu eingerichteten Arbeitsgruppe zeitnah zu einer Einigung kommt, denn viele Menschen, die privat untergekommen sind, warten darauf und trauen sich wegen der unsicheren Bleibeperspektive nicht, sich zu registrieren, was aber die Voraussetzung für den Zugang zu Unterstützung ist.

Wir sollten, wie im Koalitionsvertrag verabredet, zeitnah bestehende Landesprogramme zur Aufnahme Geflüchteter, beispielsweise aus dem Libanon, ausweiten. Das BMI muss endlich das Einvernehmen für unser Landesprogramm für Afghanistan erteilen, denn Geflüchtete erster und zweiter Klasse darf es nicht geben.

Solidarische Einwanderungshauptstadt zu sein, heißt auch, dass die Menschen, die hier ankommen, und diejenigen, die schon seit vielen Jahren und Generationen hier leben, die gleichen Chancen auf Entwicklung und ein gutes Leben haben. In Berlin leben aktuell aber circa 18 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsrisikogrenze. Davon sind Menschen mit Migrationsgeschichte mehr als doppelt so häufig betroffen wie solche ohne, nämlich nahezu jeder Dritte. Familien leben und wohnen oft in prekären Verhältnissen, arbeiten hart in schlecht bezahlten Jobs, und ihre Kinder haben nicht die gleichen Chancen wie andere. Das darf nicht sein!

Deswegen stärken wir als Koalition die Gemeinschaftsschulen, stellen benachteiligten Familien Unterstützungsstrukturen zur Verfügung, erhöhen den Landesmindestlohn und den Vergabelohn auf 13 Euro und fordern als Linksfraktion vom Bund die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns und mehr Steuergerechtigkeit für eine Umverteilung von oben nach unten.

Damit diese Menschen von ihrem Einkommen gut leben können, braucht es neben einem bundesweiten Mietendeckel weitere Instrumente zur Dämpfung der Mietentwicklung. Dazu gehört auch die Vergesellschaftung großer Wohnungsbestände. Deswegen haben auch viele Menschen mit Migrationsgeschichte den Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ unterstützt. Leider hat ihre Stimme oft nicht gezählt. Bei den Unterschriftenlisten waren über die Hälfte der ungültigen Stimmen von Berlinerinnen und Berlinern ohne deutschen Pass.

So komme ich zu meinem Herzensanliegen, dem Wahlrecht für alle.

Dafür hat schon die sogenannte Gastarbeiterinnen- und Gastarbeitergeneration gekämpft. Dafür engagieren sich heute Aktivistinnen und Aktivisten und migrantische Organisationen, wie zum Beispiel „Nicht ohne uns 14 Prozent“ und eine neue Volksinitiative in Berlin. Als Linke setzen wir uns schon lange für das Wahlrecht auf allen Ebenen ein. So durfte ich vor fast zehn Jahren noch als Rechtsreferentin meiner Bundestagsfraktion an einem Gesetzesentwurf mitarbeiten. Er wurde damals vor allem mit der Argumentation abgelehnt, dass sich die Menschen einbürgern lassen können und vielmehr dort Erleichterungen wichtig seien. Ja, Einbürgerungserleichterungen sind wichtig. Deswegen freue ich mich, wenn die Ampel ihr Versprechen einlöst und die Mehrfachstaatlichkeit zulässt und dass wir als Koalition alle Handlungsspielräume ausschöpfen und auch ein Landeseinbürgerungszentrum einführen wollen.

Das Wahlrecht muss aber unabhängig von der Staatsangehörigkeit garantiert sein. Es kann Gründe dafür geben, warum sich jemand nicht einbürgern lässt, wie beispielsweise mein Vater, aber es kann nicht sein, dass er nach 40 Jahren in Almanya immer noch nicht wählen darf.

Der Grundsatz muss lauten: Wer hier lebt und von Gesetzen und Regierungshandeln betroffen ist, muss über das Zustandekommen mitentscheiden können. Derzeit sind 20 Prozent der Berlinerinnen und Berliner von diesem Recht ausgeschlossen. Dieser Diskriminierung wollen wir als Koalition ein Ende setzen und

neben der Bundesratsinitiative auch landesrechtliche Wege prüfen; zeitnah werden wir Anträge dazu vorlegen. Berlin hat sich auch auf der Integrationsministerkonferenz schon dafür eingesetzt.

Gleiche Rechte und gleiche Teilhabe heißt auch gleicher Zugang zum Arbeitsmarkt und zum öffentlichen Dienst. Deswegen haben wir das Partizipationsgesetz novelliert, damit sich die Einwanderungshauptstadt auch im öffentlichen Dienst abbildet. Wichtig für mehr Diversität im öffentlichen Dienst wäre aber auch die Abschaffung des Verbots religiöser Bekleidung beim Lehrpersonal an Schulen durch das Neutralitätsgesetz, das sich de facto wie ein Kopftuchverbot auswirkt.

Dieses Verbot zu überdenken, empfiehlt übrigens auch ein diesen Monat frisch erschienenes Rechtsgutachten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Deutschland ist unumkehrbar Einwanderungsland; Berlin ist unumkehrbar Einwanderungshauptstadt. Das können auch die hier rechtsaußen zum Glück nicht ändern.

Diese Realität spiegelt sich auch hier im Parlament wider, das mit einem Fünftel der Abgeordneten mit Migrationsgeschichte so divers ist wie noch nie. Wir Abgeordneten of Color vernetzen uns, um unsere Themen und Parteistrukturen durchlässiger zu gestalten und mehr Menschen mit Migrationsgeschichte in die Parlamente zu bekommen.

Ich möchte mich hier unter anderem bei meinen großartigen Kolleginnen und Kollegen Tuba Bozkurt, Jian Omar und Orkan Özdemir für die Zusammenarbeit zu all diesen Themen bedanken.

Unser Anspruch als Berlin steht da: „Einwanderungs- und Zufluchtshauptstadt mit Herz.“ – Diese Worte geben unser Leitbild als Koalition wieder. Berlin macht sehr viel, aber auch in Berlin passieren Fehler, und es kommt zu Ungleichbehandlung und strukturellem Rassismus, auch durch Behördenhandeln. Daher müssen diese Worte auch Ansporn für uns alle hier sein, unseren Anspruch jeden Tag tatsächlich zu leben und für seine Umsetzung alles Erdenkliche zu tun. – Danke!