Gesellschaft pandemiefest machen

74. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses, 25. Februar 2021

Zu "Zweite Verordnung zu Regelungen in Einrichtungen zur Pflege von pflegebedürftigen Menschen während der Covid 19-Pandemie (Zweite Pflegemaßnahmen-Covid 19-Verordnung)"

Dr. Wolfgang Albers (LINKE):

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Meine Damen! Meine Herren! Herr Zeelen, zur Pflegekammer, dieses leidliche Thema: In Niedersachsen haben Sie die doch gerade vor zwei Jahren eingeführt, und nach zwei Jahren müssen Sie sie wieder abschaffen, weil die Pflegenden gesagt haben, wir brauchen euch nicht. Die Diskussion führen wir an anderer Stelle gerne, aber nicht hier.

Zunächst einmal zu den beiden Rechtsverordnungen über die wir heute auf der Grundlage unseres Parlamentsbeteiligungsgesetzes sprechen. – Jetzt habe ich das Ding noch um.

[Mario Czaja (CDU): Sie waren schon relativ lange nicht mehr am OP-Tisch gestanden?]

– Seien Sie froh! –

[Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD –
Torsten Schneider (SPD): Wieso? Sind Sie Hirnchirurg?]

Ich habe Ihnen hier das Titelblatt einer Zeitschrift des Pflegeschutzbundes mitgebracht: „Stop. Besuchs- und Betretungsverbot. Für unsere Pflegestationen gilt ab sofort ein generelles Besuchsverbot!“ – Dieses Schild war keineswegs die Ausnahme, es war eher die Regel und schien durch manche Coronaschutzverordnung auch noch gedeckt. Die Kontaktverbote wurden über die Köpfe der Heimbewohner und Pflegebedürftigen hinweg geregelt und in die Hände der Heimleitungen gelegt.

Der Pflegeschutzbund hat dazu eindeutig Position bezogen: Die Abhängigkeit von Pflege darf nicht zur Fremdbestimmung und Isolation führen. Auch die Menschen in Pflegeheimen haben ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. – Ja, wir haben eine objektive Schutzpflicht für das Leben und die Gesundheit dieser Menschen, aber wir haben diese Schutzpflicht auch für deren persönliche Würde, für deren Handlungs- und Entscheidungsfreiheit als unveräußerliche Grundrechte, auch am Ende eines Lebens und auch hinter den Türen von Pflegeeinrichtungen. In § 12 dieser zweiten Verordnung zu Regelungen in Einrichtungen zur Pflege regeln wir das jetzt als Parlament rechtssicher und verbindlich und regeln gleichzeitig auch noch etwas anderes. Wir nutzen nun Schnelltests als Torwächter für den Zutritt in unsere Alten- und Pflegeheime und schützen so die alten Menschen ohne sie an ihrem Lebensende in unerträgliche Isolation und unnötiger Einsamkeit zu zwingen.

Es hat viel zu lange gedauert, bis aus der Erkenntnis, dass Alten- und Pflegeheime besonders vulnerabel sind, endlich die Konsequenz gezogen wurde, diese dann auch konsequent zu schützen.

Auf der Bundesebene sind Sie da überhaupt nicht aus der Hüfte gekommen, Herr Zeelen. Ich erinnere noch mal an die Videoschaltkonferenz der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin vom 5. Januar. Zum Beispiel in Berlin kommen nahezu zwei Drittel der Verstorbenen aus den Pflegeheimen, und dennoch ist bei dieser Konferenz Ihrer Kanzlerin nicht mehr herausgekommen als die Unverbindlichkeit einer Testung – ich zitiere noch mal wörtlich: „mehrmals pro Woche“ –, und das auch nur in Regionen mit erhöhter Inzidenz.

Wir waren in Berlin die ersten, die auf tägliche Schnelltests als verbindliche Türöffner für die Beschäftigten und die Besucher in den Pflegeheimen gedrungen haben. Wir haben das jetzt auch durchgesetzt.

Die neue Rechtsverordnung regelt das in § 5. Wir hatten ursprünglich auch eine entsprechende Regelung für die Krankenhäuser vorgesehen. Ja, das ist richtig. Wir haben uns dann aber davon überzeugen lassen müssen, von den Verantwortlichen bei Vivantes, der Charité und von der Berliner Krankenhausgesellschaft, dass die praktische Umsetzung einer solchen Vorgabe anders als in den Pflegeheimen zu erheblichen organisatorischen und technischen Problemen geführt hätte, durch die die Arbeitsabläufe in den Kliniken im Hinblick auf die Patientenversorgung massiv beeinträchtigt worden wären. Wir haben unsere Entscheidung deshalb modifiziert. Wir sind hier nicht eingeknickt, wie es uns im Gesundheitsausschuss vorgeworfen wurde. Wir haben eine nicht wirklich durchdachte Entscheidung korrigiert. Dazu stehen wir dann auch. Da braucht es auch keine billige Häme.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die jetzige Modifikation der Zweiten Verordnung zur Regelung in den zugelassenen Krankenhäusern, über die wir heute auch befinden, beim Coronaausbruch im Humboldt-Krankenhaus, in Reinickendorf angewandt, diese unsägliche und unzumutbare Pendelquarantäne und den damit verbundenen Aufwand für die Beschäftigten und die Klinik überflüssig gemacht hätte. Ein negativer Schnelltest zum Schichtende, und man wäre sorglos auf üblichem Wege nach Hause gefahren und hätte nicht auch noch die Familie in Mithaftung genommen. Soweit zu den Rechtsverordnungen.

Zu den Anträgen der FDP: Mir erschließt sich nicht, warum Sie bei Ihrem Sportantrag Bundesligamannschaften und olympische Spielsportarten aufrufen. Wir haben riesige Probleme im Amateursport.

Er liegt weitgehend brach. Darüber werden wir in der Tat noch zu reden haben. Im Grunde geht es Ihnen in Ihren Anträgen darum, ob und wenn, wie wir unter Pandemiebedingungen gesellschaftliches Leben in all seinen Facetten wieder möglich machen. Diese Diskussion führt auch der Senat. Die Frage ist, auf welchem Weg wir das erreichen, No-Covid, Zero-Covid, Low-Covid.

[Sebastian Czaja (FDP): Sagen Sie mal was zu
Fahrschulen? Warum dürfen die in Brandenburg
fahren, hier aber nicht?]

Die Amtsärzte haben das in ihrem Brief vor einigen Tagen meines Erachtens sehr treffend charakterisiert und ein Umdenken eingefordert, auch beim Jonglieren mit den Inzidenzen. Ich halte deren Kritik für sehr wohl bedenkenswert. Viruserkrankungen sind schwer zu besiegen.

[Sebastian Czaja (FDP): Sagen Sie etwas dazu!]

– Dann müssen Sie mir eine Frage stellen.

Himmelherrgott noch mal! Ich kann doch keine Gedanken lesen, schon gar nicht Ihre. Da müsste ich mich sedieren.

Hat er nun eine Frage?

Vizepräsidentin Dr. Manuela Schmidt:

Er hat jetzt eine Frage gestellt. Ich gehe einmal von Ihrer Zustimmung aus.

Dr. Wolfgang Albers (LINKE):

Dann soll er die Frage stellen.

Vizepräsidentin Dr. Manuela Schmidt:

Herr Czaja, Sie haben das Wort. – Bitte!

Sebastian Czaja (FDP):

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Herr Albers, vielen Dank für die Einladung zur Frage! Sie haben ausgeführt, dass Sie auf die Anträge der FDP-Fraktion eingehen und haben dann pauschal geurteilt. Ich bitte Sie, Stellung zu beziehen, wieso Sie nicht bereit sind, dass Fahrschulen in der Stadt wirtschaften dürfen, während sie es in Brandenburg dürfen und wo Sie im Sinne des Infektionsschutzes die Trennlinie ziehen zwischen gewerblichem und privatem Autoverkehr. Das ist am Ende nicht nachvollziehbar und führt bei vielen wirklich an den Rand der Insolvenz oder an das Existenzminimum.

Dr. Wolfgang Albers (LINKE):

Sagen wir es mal so, Herr Czaja, ich habe Ihre Frage weiter gefasst und weiter gefasst beantwortet. Es geht in der Tat darum, wie wir gesellschaftliche Bereiche wieder öffnen.

[Heiko Melzer (CDU): Haben Sie die Frage nicht
verstanden, oder wissen Sie die Antwort nicht?]

– Hören Sie vielleicht einfach einmal zu und machen sich Ihre Gedanken. Ich habe Ihnen die Antwort doch gegeben. Wir können doch nicht an einem partiellen Problem die gesamte Frage der Öffnung gesellschaftlichen Lebens festmachen. Die Frage hätten Sie mit Blumenhändlern und allen anderen auch stellen können.

[Frank-Christian Hansel (AfD): Die Fragen sind
aber im Raum! Genauso ist es!]

Deswegen habe ich Ihnen gesagt, man kann eine solche Frage nur in größeren und Gesamtzusammenhängen beantworten. Jetzt lassen Sie mich Ihnen das möglicherweise noch erklären.

Viruserkrankungen sind schwer zu besiegen. Es ist erst ein einziges Mal gelungen, eine Viruserkrankung zu eradizieren. Das war 2008, und das waren die Pocken. Es ist also möglich, dass wir trotz vorhandener Impfmöglichkeit noch lange mit diesem Erreger werden leben müssen. Wir haben auch die Masern nicht eliminiert, obwohl wir eine hohe Durchimpfungsrate erreicht haben. Auch die banale Grippe taucht regelmäßig saisonal wieder auf und beschert uns jährlich neue Mutationen.

[Frank-Christian Hansel (AfD): 20 000 Tote!]

Das wird bei dem Coronavirus möglicherweise nicht anders sein.

[Marc Vallendar (AfD): Der Lockdown bringt also nichts, ist sinnlos!]

Wir werden deshalb nicht darum herumkommen und jetzt, Herr Czaja, hören Sie zu, unsere Gesellschaft pandemiefest zu machen, widerstandsfähig, resilient, wie das jetzt heißt, dazu müssen wir natürlich impfen, schnellstmöglich, auch in den Arztpraxen. Das geht, sagt die KV, es ist kein Problem.

[Marc Vallendar (AfD): Sie sind doch noch nicht mal bei den 60-jährigen gelandet! Schauen Sie mal nach Israel!]

Die KV hat die Infrastruktur und wäre auch bereit – da habe ich eine andere Position als mein Kollege von vorhin. Der Mythos um die Kühlung des Biontech-Impfstoffs hat sich technisch weitgehend erledigt. Impfen ist so möglich, wohnortnah und niederschwellig. Das ermöglicht zum einen patientennahe Aufklärung über die Impfstoffe, erhöht so die Akzeptanz und ganz sicher auch die Impfbereitschaft und die Impfzahlen. So weit, so gut.

Wir brauchen aber, wenn Sie so wollen, auch einen solchen Impfschutz für unsere gesellschaftliche Infrastruktur. Darüber müssen wir nachdenken, Herr Czaja, sehr wohl, auch für die Fahrschulen, auch für die Bootsschulen. Dafür brauchen wir Instrumente für die Pandemiebekämpfung, über die wir schon verfügen,

[Marc Vallendar (AfD): Der Lockdown ist
das falsche Instrument!]

beispielsweise die Schnelltests, die dann auch strategisch und vor allem offensiv einzusetzen sind. Wir müssen auch über neue Instrumente nachdenken und die dann mutiger nutzen.

Wir haben sehr wohl Möglichkeiten, unsere Normalität aktiv zurückzuholen. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, sie verantwortungsvoll zu nutzen. Da geht es eben nicht nur um Bootsschulen und Fahrschulen. Da geht es in der Tat um den gesamten Handel. Da geht es um die Kultur, und da geht es auch um den Sport. Daran zu arbeiten, ist wichtig. Da hilft uns diese eine Passage, die Sie geändert haben, überhaupt nicht weiter, weil sie das Problem für alle anderen nicht löst.

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