Niedrigschwellige Angebote für Familien statt Zwang und Pflicht

39. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 21. März 2019

Katrin Seidel (LINKE):

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hätte ja nie gedacht, dass ich Frau Bentele zustimme, aber da haben Sie tatsächlich den Nagel auf den Kopf getroffen, Sie haben auch gleich den Beweis dafür geliefert, dass Zwang und Pflicht nicht dazu führen, dass alle Menschen erreicht werden, und das ist ja genau die verpflichtende Einschulungsuntersuchung, die Sprachstandsfeststellung. Da fragt der Kollege Langenbrinck regelmäßig einmal pro Jahr die Zahlen ab, und wir sehen: Die Einführung des Bußgelds in der letzten Legislaturperiode, das die Eltern dazu bringen sollte, ihr Kind zu den Sprachstandsfeststellung zu bringen, hat keine Auswirkungen gehabt. Es ist eben so, dass bestimmte Familien nicht per Post oder per sonstigen Behördenbriefen erreicht werden, sondern zu denen müssen wir hingehen. Da braucht es eben niedrigschwellige Beratungsangebote in den Kiezen, in den Sozialräumen, an den Familienzentren oder aufsuchende Sozialarbeit oder Lotsinnen, wie auch immer. Da müssen wir tatsächlich darüber nachdenken, wie diese Quote gesenkt werden kann. Wir sind gut dabei, Ideen zu sammeln und das gemeinsam zu entwickeln. Aber wie gesagt: Pflicht und Zwang führen nicht dazu, dass wir alle Menschen erreichen.

Ich bin Herrn Fresdorf dankbar, dass er mir erklärt hat, wie das alles gemeint ist. Die Überschrift ist schön. Das sehen wir alle so. Natürlich wollen wir das auch alles, aber dann fängt der Antrag an, in eine Richtung zu gehen, die das Gegenteil von dem bewirkt, was er vorgibt zu wollen. Nach der Logik dieses Antrags müssen Kinder eigentlich nur eines, nämlich funktionieren, und das nach einer Schablone, die im Antrag Grundniveau genannt wird. Wer nicht reinpasst, soll passend gemacht werden, und diese Passfähigkeit wird kontrolliert, damit es eine Beschulbarkeit gibt, die dazu führt, dass Bildungsgewinner produziert werden, die dann den sozialen Aufstieg erleben. Merkwürdig, merkwürdig! Wir haben ein anderes Bild von der Kindheit. Dieses Bild wird eher in ein freies, selbstbestimmtes Leben führen.

Der Antrag bleibt diverser Antworten schuldig. Wer soll eigentlich bestimmen, wie diese Beschulbarkeit aussieht? Er sagt nicht, was mit den Kindern passiert, die sich der Kitapflicht entziehen oder die die Prüfung nicht bestehen. Die Kollegin hat auch schon gesagt, dass die wahrscheinlich sitzenbleiben werden. Er sagt auch nicht, wie das Schwänzen in der Kita bestraft werden soll. Ich kann es nicht verstehen: Dieser Antrag ignoriert elementares Wissen um die Individualität jedes Kindes, jedes Menschen. Er ignoriert die Tatsache, dass Kinder auch in ihrer Geschwindigkeit beim Lernen unterschiedlich sind und dass Kinder eben Kinder sind, und das sollen sie auch bleiben.

Er ignoriert, dass Vielfalt auch in der Frühförderung gelebte Realität in unseren Einrichtungen ist und dass sich die Bildungsinstitutionen auf die Kinder einzustellen haben und nicht umgekehrt. Der Antrag ignoriert nicht nur Kinderrechte, sondern auch die Elternrechte, z. B. dass es Elternrecht ist zu entscheiden, ob und in welchem Umfang das Kind in eine Kita geht und wann das Kind in die Schule kommt. Wir haben aus gutem Grund hier sehr flexible Regelungen, und das soll auch so bleiben. Er ignoriert, dass wir ein Bildungsprogramm haben. – Das ist auch schon gesagt worden. – Er ignoriert, dass die Berliner Eltern wissen, dass ein möglichst mehrjähriger Kitabesuch die besten Voraussetzungen bietet nicht nur für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, sondern auch für die Entwicklung des Kindes gut ist, und zwar im Sinne von mehr Chancengleichheit. Wenn das nicht so wäre, hätten wir nicht so viele Probleme, für jedes Kind einen guten Kitaplatz bereitzustellen – das haben wir alle mitbekommen – und damit den Rechtsanspruch jedes Kindes zu verwirklichen.

Aus unserer Perspektive brauchen wir keine Kitapflicht für die Realisierung des Rechtsanspruchs. Beherzigen wir das, was wir in der Anhörung von den Expertinnen und Experten gehört haben. – Ich glaube, Sie waren in einer anderen Anhörung, Herr Fresdorf. – Ich glaube auch nicht, dass alle Schulleiter in Berlin totale Angst vor Herrn Rackles haben und deshalb nicht bereit sind, öffentlich eine Aussage zu der Situation in ihren Schulen zu machen. Was wir da gehört haben, hat anderes ergeben. Wir brauchen mehr Kita Qualität. Wir wollen unser System weiterentwickeln, Fachkräfte gewinnen, positiv herangehen. Wir haben auch Verbündete in der Stadt. Wir waren alle am Freitag bei der Veranstaltung des Kita Bündnisses. Da haben wir Sie gesehen. Ich verstehe nicht, was Ihr Vorschlag soll. In der jetzigen Situation auch noch einen Systemwechsel zu initiieren, hilft da kein bisschen weiter. Ihr Antrag ist daher natürlich abzulehnen.