Vom "Tabubruch" zur Berliner Normalität

Harald Wolf über 30 Jahre in Opposition und Regierung

Es war am 17. Januar 2002, als der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Christoph Stölzl im Abgeordnetenhaus anlässlich der Wahl des ersten rot-roten Senats die Frage nach dem „historischen Sinn des Moments“ stellte und meinte: „Die Zuschauer aus aller Welt antworten: Heute sperrt die Sozialdemokratie dem Kommunismus die Tür zur Macht in Deutschland wieder auf.“ Nun – der Kommunismus kam nicht durch die Tür herein. Was damals als Tabubruch galt, ist heute Berliner Normalität. Seit 30 Jahren ist die DIE LINKE – zuerst als PDS – im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten, davon die Hälfte der Zeit – 15 Jahre – als Regierungspartei. Sie hat in dieser Zeit – und tut es noch immer – entscheidend die Geschicke Berlins geprägt und die Stadt verändert.

Hätte jemand dies vor 30 Jahren vorhergesagt – er oder sie hätte wohl als realitätsfremder Phantast gegolten. Die PDS war als Nachfolgerin der DDR-Staatspartei SED stigmatisiert und ausgegrenzt. Die Berliner Fraktion eine bunt zusammengewürfelte Truppe aus ehemaligen SED-Mitgliedern, ex-Grünen, Westlinken und linken DDR-Oppositionellen. Die Partei war im Westteil der Stadt kaum vertreten. Nur wenige hätten darauf gewettet, dass dem Projekt linke Fraktion im Abgeordnetenhaus Erfolg beschieden wird.

Tatsächlich waren die ersten Jahre hart und turbulent. In der Fraktion trafen die unterschiedlichsten politischen Erfahrungen und Kulturen aufeinander. Fraktionssitzungen waren lang, geprägt von heftigen, zeitweilig erbitterten Debatten und Auseinandersetzungen über unser Oppositionsverständnis und unsere Haltung zur DDR-Vergangenheit. Aber schließlich entwickelten wir in diesem Prozess ein gemeinsames Verständnis einer emanzipatorischen linken Politik.

Erste Erfolge stellten sich ein: Mit einem breiten linken Bündnis gelang es, die Berliner Bewerbung für die Olympiade 2000 zu Fall zu bringen. Als „Kümmererpartei“ gewannen wir im Osten Berlins wieder zunehmend an Akzeptanz. Bei den Wahlen 1995 wurden wir mit 14,6 Prozent stärkste Oppositionspartei. Damit war klar – die linke Fraktion im Abgeordnetenhaus ist keine Eintagsfliege, mit ihr ist zu rechnen.

In den folgenden Jahren konzentrierten wir uns darauf, die verfehlte Finanz- und Stadtentwicklungspolitik der damaligen CDU/SPD-Koalition anzugreifen. Die falschen Prioritäten der Investitionspolitik, die wachsenden Haushaltsdefizite, die Privatisierung zahlreicher öffentlicher Unternehmen, den Größenwahn des CDU/SPD-Senats in kürzester Zeit trotz schrumpfender Wirtschaft und steigender Arbeitslosigkeit in die Liga der Weltmetropolen aufzusteigen – all das darzustellen würde hier den Rahmen sprengen. Mit dem Berliner Bankenskandal brach das Kartenhaus aus provinziellem Größenwahn, Spekulation, Subventions- und Selbstbedienungsmentalität zusammen. Wir ernteten die Früchte unserer Aufklärungsarbeit und einer stringenten Oppositionspolitik. Mit der Initiative für einen Volksentscheid zur Auflösung des Parlaments erzwangen wir Neuwahlen. Mit Gregor Gysi als Kandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters erreichten wir 2001 mit 22,6 Prozent ein grandioses Wahlergebnis. Es kam zum Tabubruch des Eintritts der PDS in die Regierung der ehemals geteilten Stadt.

Die Freude über diesen politischen Erfolg war nicht ungetrübt. Denn wir wussten – wir übernahmen die Regierung einer überschuldeten, bankrotten Stadt. Die Bankgesellschaft faktisch pleite, aber das Land in der Haftung. Die öffentlichen Unternehmen von der Krankenhausgesellschaft Vivantes bis zu den Wohnungsbaugesellschaften in einem desolaten Zustand. Die Große Koalition hatte uns einen Scherbenhaufen hinterlassen und wir mussten nun die Aufräumarbeit leisten. Die Rahmenbedingungen waren miserabel – es war die Hochzeit des Neoliberalismus. Von der Bundesregierung war keine Unterstützung zu erwarten – im Gegenteil: Mit den Hartz-Gesetzen wurde der größte Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik ins Werk gesetzt, die rot-grüne Steuerreform mit jährlich 1,5 Milliarden Einnahmeverlust riss das Haushaltsloch noch weiter auf. Um die Stadt nicht noch tiefer in die finanzielle Handlungsunfähigkeit zu treiben, waren wir gezwungen, harte Einschnitte vorzunehmen – rückblickend betrachtend, gingen wir dabei an der einen oder anderen Stelle zu weit. Wir bekamen viele gute Ratschläge vom neoliberalen Mainstream in den Medien, der IHK und sogar vom Bundesverfassungsgericht: Die Sparkasse sollten wir wie auch Vivantes, die BVG, die Messe, den Flughafen und die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften privatisieren. Die verbliebenen 50,1 Prozent an den Wasserbetrieben sollten wir auch noch veräußern. Wir aber entschieden uns für einen anderen Weg: „Sanieren statt privatisieren“ war unser Motto. Diese Unternehmen als unverzichtbaren Bestandteil der öffentlichen Infrastruktur Berlins erhalten und weiterentwickelt zu haben, ist ein Verdienst der rot-roten Regierung. Einen gravierenden Fehler haben wir jedoch begangen: Unter dem Druck eines von der Opposition angestrengten Verfassungsgerichtsurteils stimmten wir dem Verkauf der Wohnungsbaugesellschaft GSW zu. Eine Fehlentscheidung, die bis heute nachwirkt. Bei allen Problemen und Einschnitten, die wir vornehmen mussten, gelangen uns doch wichtige Reformen wie die Etablierung von Gemeinschafts- und Sekundarschulen und die Abschaffung der Hauptschule, die Etablierung eines öffentlichen Beschäftigungssektors als Alternative zu 1-Euro-Jobs und die Einführung des Sozialtickets und des Berlinpasses. Lange vor der Einführung eines bundesweiten Mindestlohns beschlossen wir als erstes Bundesland einen Mindestlohn bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, schufen die seitdem reichlich genutzten neuen Möglichkeiten von Volksentscheiden und leiteten einen Paradigmenwechsel in der Innen-, Integrations- und Migrationspolitik zu Deeskalation, Liberalität und Weltoffenheit ein. Aber trotz alledem – die Sanierungspolitik und die mit ihr verbundenen Härten hatten ihren politischen Preis. Wir verloren massiv Stimmen – auch weil wir keine Antwort auf die seit der weltweiten Finanzkrise massiv gestiegene Immobilienspekulation und Mietpreisexplosion gefunden hatten. Aber bei allen Fehlern und Irrtümern, die damalige rot-rote Regierung markierte eine wichtige Zäsur. Berlin war jetzt nicht mehr die von Klientelismus geprägte, von vielen als „Hauptstadt von Filz und Korruption“ gebrandmarkte Stadt. Rot-rot schuf die Grundlage dafür, dass Berlin sich wirtschaftlich erholte und heute als attraktive und weltoffene europäische Metropole gilt.

Die ab 2011 folgenden fünf Jahre in der Opposition waren Jahre der Neuorientierung und der Aufarbeitung der Erfahrungen unserer Regierungszeit. Es galt verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Parlamentarisch wie außerparlamentarisch unterstützen wir die Forderung des Mietenvolksentscheids und des Volksentscheids für die Rekommunalisierung der Energieversorgung. Die Früchte konnten wir bei den Abgeordnetenhauswahlen 2016 ernten. Mit 15,6 Prozent legten wir deutlich zu und traten wieder in die Regierung ein – diesmal Rot-Rot-Grün. Und Fraktion und Partei haben gelernt aus der Vergangenheit: Das Zusammenspiel von gesellschaftlichen Bewegungen, Partei, Fraktion und Regierungspolitik funktioniert – nicht immer spannungsfrei, aber produktiv. Erfolge in der Mietenpolitik – wie der Mietendeckel stehen dafür. Und dass Fraktion und Partei die Forderung nach einer Vergesellschaftung von Immobilienkonzernen unterstützen, zeigt, dass DIE LINKE in der Regierung auch bereit ist, die alte Losung wonach „Wohnen keine Waren“ sein darf, konkret werden zu lassen, indem sie weite Bereiche der Wohnungswirtschaft privatkapitalistischer Verwertung entzieht.

Ist dem Kommunismus damit die Tür aufgesperrt, wie Christoph Stölzl 2002 fürchtete? Das nicht – aber einer Politik, die die Interessen der Vielen und das Gemeinwohl und nicht die Profitinteressen der Wenigen im Auge hat. Dabei wünsche ich weiter viel Erfolg!