Reaktion auf Solingen: Fokus auf die Ursachen statt gefährlichem Populismus
Beschluss der Fraktion vom 24.09.2024 auf Vorschlag von Elif Eralp, Niklas Schrader, Ferat Koçak
Die politischen Reaktionen auf den schrecklichen Anschlag von Solingen sind ein Ausdruck des gesellschaftlichen Rechtsrucks in unserem Land und ein Beleg dafür, dass Parteien von Union bis zu Teilen der Grünen bereit sind, dem Druck von rechts in Zeiten des Wahlkampfs nachzugeben.
Das so genannte „Sicherheitspaket“ der Ampel beinhaltet genau wie Forderungen aus dem Berliner Senat einen Generalverdacht gegen Geflüchtete, die Aushebelung des Rechtsstaats bei Abschiebungen, symbolpolitische Maßnahmen im Polizeirecht und Befugnisse zur uferlosen Überwachung. Nichts davon wird dazu beitragen, die Gefahr durch islamistischen Terrorismus oder Gewaltkriminalität nachhaltig zu verringern. Wir wollen an den Ursachen ansetzen und kritisieren diese reflexhafte Politik der Grundrechtseinschränkungen.
Migrationspolitik: enthemmter Populismus
Im Asyl- und Aufenthaltsrecht werden nun Verschärfungen gefordert, weil der Täter aus Syrien nach Deutschland geflohen war und sein Asylantrag zunächst als unzulässig abgelehnt wurde, da nach europäischem Recht (Dublin-Verordnung) Bulgarien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig war. Da aber eine Überstellung scheiterte und die Frist abgelaufen war, war zwischenzeitlich Deutschland für das Asylverfahren zuständig.
Die Linke setzt sich grundsätzlich für die Gleichbehandlung aller in Deutschland lebenden Menschen unabhängig von der Herkunft und Staatsbürgerschaft ein. Das bedeutet, dass Straftäter und Terroristen in Deutschland ein rechtsstaatliches Strafverfahren erhalten und verurteilt werden sollten und auch ihre etwaige Haftstrafe in deutschen Gefängnissen vollstreckt wird. Eine Abschiebung wäre hingegen eine Art Doppelbestrafung, die nur nichtdeutsche Täter treffen kann.
Die jetzt diskutierten Verschärfungen in der Migrationspolitik hätten das Attentat nicht verhindert und sind auch ansonsten abzulehnen. Beispielsweise fordern nun CDU- und Ampelpolitiker*innen eine Abschiebung insbesondere von Straftätern und sogenannten Gefährdern auch nach Afghanistan und Syrien, so auch die Innensenatorin Berlins Spranger. Allerdings war der Attentäter von Solingen bisher polizeilich nicht bekannt, so dass er weder als Gefährder oder Straftäter bei der Polizei registriert war. Zudem wurde bisher in diese Länder nicht abgeschoben, weil dort kriegerische Auseinandersetzungen toben und die Machthaber wie die Taliban oder Assad Menschenrechte nicht achten und Folter und Misshandlung von Zivilist*innen an der Tagesordnung sind und außerdem die Terrormiliz IS großen Einfluss hat. Viele Menschen die vor dem IS oder diesen Regimen geflohen sind fürchten nun abgeschoben zu werden, dabei haben sie vor diesen Gräueltaten hier Schutz gesucht. Dass in Länder, in denen Menschen Folter, Verfolgung oder Lebensgefahr droht nicht abgeschoben wird, ist im europäischen und deutschen Aufenthaltsrecht aus humanitären sowie Völkerrechts- und Menschenrechtsgründen verankert. Diese wichtigen Prinzipen dürfen nicht aufgegeben werden.
Auch die Forderungen nach einer Wiedereinführung der Abschiebehaft in Berlin sind falsch und hätten auch nicht geholfen. Abschiebehaft kann nur angeordnet werden, wenn die Abschiebung unmittelbar bevorsteht. Das war nach Übergang der Zuständigkeit für das Asylverfahren des Attentäters nicht der Fall. Gegen ihn hätte eine Abschiebehaft nicht verhängt werden können, da das Asylverfahren noch nicht entschieden war.
In beiden Koalitionsverträgen der letzten Jahre von Rot-Rot-Grün war verabredet, dass Abschiebehaft nicht praktiziert wird, weil den Betroffenen keine Straftat vorzuwerfen ist und die alleinige Tatsache, dass sie aus ihren Herkunftsländern nach Deutschland geflohen sind, aber kein Asyl zugebilligt bekommen haben, eine Inhaftierung nach humanen Gesichtspunkten niemals rechtfertigen kann. Allein wenige Gefährder oder verurteilte Straftäter wurden bisher kurzfristig in den Abschiebegewahrsam genommen. Als Linke halten wir an der generellen Ablehnung der inhumanen Abschiebehaftpraxis fest, die durch Erlebnisse im Herkunftsland und Flucht traumatisierten Geflüchteten weiter nachhaltig schaden kann.
Innenpolitik: leere Versprechungen auf Kosten der Grundrechte
In der Innenpolitik auf Bundesebene werden Verschärfungen im Waffenrecht vorbereitet, die Berliner Koalition plant so genannte Messerverbotszonen, in denen die Polizei die Befugnis zu anlasslosen Kontrollen erhalten soll. Zweifelhaft ist, ob ein schärferes Verbot etwa von bestimmten Messern durchsetzbar ist und irgendeinen Mehrwert bringt. Viele der in der jüngsten Vergangenheit begangenen Taten wurden mit Waffen begangen, die auch jetzt schon verboten sind. Anlasslose Polizeikontrollen sind nicht nur kriminologisch gesehen wenig effizient, sie sind auch ein Einfallstor für eine vorurteilsbehaftete Kontrollpraxis, sprich: Racial Profiling. Die Tatsache, dass bislang nicht einmal gewaltbereite Neonazis konsequent entwaffnet werden, zeigt, dass diese Vorschläge nicht mehr sind als ein leeres Versprechen.
In diese Kategorie fällt auch die von Innensenatorin Spranger ins Spiel gebrachte „Videoüberwachung mit Künstlicher Intelligenz“. Dieses sogar von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) als „realitätsfern“ bezeichnete Instrument erkennt bestenfalls eine Straftat, verhindert diese aber nicht. Die Nebeneffekte sind bekannt: Softwaregestützte Videoüberwachung ist nicht nur ein tiefer Grundrechtseingriff, sie kann auch eine diskriminierende Schlagseite zu Ungunsten von migrantisch gelesenen oder marginalisierten Personen entwickeln. Die bisherigen Versuche zeigen, dass die false-positive Rate so hoch ist, dass hauptsächlich unverdächtige Menschen kontrolliert würden. Diese ungewollten Effekte führen zu einer Verhaltensanpassung der Menschen, für die nicht erkennbar ist, welche Verhaltensweisen die Algorithmen als verdächtig einstufen und welche nicht.
An die Ursachen gehen: Islamismusprävention und Deradikalisierung
So vehement, wie neue Befugnisse und Grundrechtseinschränkungen durchgesetzt werden sollen, so schweigsam wird es, wenn es um Maßnahmen zur Ursachenbekämpfung geht. In Berlin gibt es viele erfolgreiche Projekte, die wertvolle Arbeit in der Prävention und Deradikalisierung leisten. Diese müssen dringend ausgebaut und auf eine verlässliche finanzielle Grundlage gestellt werden. Völlig widersprüchlich und kontraproduktiv ist es dagegen, wenn wegen der Abschiebungen nach Afghanistan mit dem dort herrschenden Taliban-Regime kooperiert und es damit in seiner Machtstellung gestärkt wird. So trägt man zum Erstarken des globalen Islamismus bei anstatt ihn zu bekämpfen.
Stattdessen braucht es eine Ausweitung der Kapazitäten von Projekten, die mit jungen Menschen in Schulen und Jugendeinrichtungen arbeiten, radikal-islamistische oder andere menschenfeindliche Denkmuster auseinandernehmen und demokratische Bildung betreiben. Beratungsstellen wie die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIGA) oder PREVENT machen wertvolle Arbeit, können den Bedarf nicht annähernd abdecken. Neben der direkten Arbeit mit Jugendlichen und Heranwachsenden braucht es mehr Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte, Beratung für Eltern und Angehörige sowie im Einzelfall individuelle Intervention zur Deradikalisierung. Auch in Geflüchtetenunterkünften gibt es immer noch kein systematisches Angebot von Radikalisierungsprävention und -intervention. Gleiches gilt für therapeutische Angebote für Menschen mit Gewalterfahrung. Es hat sich gezeigt, dass islamistisch motivierte Gewalttaten mitunter von sehr jungen, teilweise noch minderjährigen Tätern begangen werden. Die Radikalisierung findet zunehmend auch alleine über soziale Medien ohne direkte Einwirkung von Predigern, Mentoren oder ähnlichem statt. Daher ist eine Verbreiterung der Präventions- und Interventionskonzepte nötig, insbesondere zur Radikalisierung im Netz und in den sozialen Medien und zur Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Hierfür bedarf es mehr Forschung über Radikalisierungsprozesse im Bereich Salafismus und Jihadismus.
Entscheidend für eine Ausweitung solcher Maßnahmen ist die finanzielle Ausstattung. Schon jetzt haben einschlägige Träger keine gesicherte finanzielle Perspektive und hangeln sich von Zuwendungsantrag zu Zuwendungsantrag. Dazu kommen nun die drohenden Kürzungen im Landeshaushalt. Diese müssen gestoppt werden! Stattdessen braucht es langfristige Planungssicherheit und endlich eine gesetzliche Absicherung mit Präventions- und Demokratiefördergesetzen.
An die Ursachen gehen: gegen Messer im Alltag vorgehen
Wir widersprechen deutlich der Behauptung, (Messer-)Gewalt sei vor allem ein Phänomen von Geflüchteten oder anderweitig Zugewanderten. Die Forschung zeigt: Messer im Alltag und Messergewalt sind kein Einwanderungs-, sondern vor allem ein schichtübergreifendes männliches Problem. Junge Männer, für die es wichtig ist, Dominanz und Stärke auch im eigenen Freundeskreis zu demonstrieren, führen eher Messer mit sich. Will man dem Problem beikommen, müssen Faktoren angegangen werden, die Menschen dazu motivieren, Messer mit sich zu führen. Insofern müssen wir Maßnahmen verstärken, die versuchen, in (meist männlichen) Subkulturen gegen das alltägliche Mitführen von Messern vorzugehen. Das Berliner Projekt „Messer machen Mörder“, bei dem junge Menschen für Gefahren von Messern sensibilisiert werden, ist hierfür ein Beispiel. Eine Evaluation hat ergeben, dass sich die Zahl der Schüler*innen, die Messer mitführen, dadurch verringert hat.
Nicht die Herkunft oder Staatsangehörigkeit, sondern die Lebensumstände tragen dazu bei, dass jemand ein Messer mit sich herumträgt. Folglich muss an den Lebensumständen angesetzt werden. Gewalterfahrung, Vernachlässigung oder auch verschiedene traumatische Erfahrungen sind Faktoren, die das Risiko erhöhen. Hier braucht es präventive und therapeutische Angebote zur Bewältigung, damit Betroffene nicht selbst zu Tätern werden.
Messergewalt steht oft im Zusammenhang mit akuten mentalen Ausnahmezuständen, hervorgerufen durch psychische Erkrankungen, Medikamenten- oder Drogeneinfluss. Wir fordern speziell geschulte Kräfte, die in akuten Fällen in Notrufgeschwindigkeit vor Ort sein und anstelle der Polizei gefährliche Situationen deeskalieren können. Unser Antrag „Sicherheit durch multiprofessionelle Kriseninterventionsteams – Durchführung eines Modellprojekts“ (AGH-Drs. 19/0988) ist hierfür ein dringend notwendiger Einstieg.
An die Ursachen gehen: Teilhabe statt Ausgrenzung
Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen erhöhen das Risiko der Empfänglichkeit für radikale Ideologien und der Gewaltanwendung. Gerade deshalb braucht es statt ausgrenzenden und stigmatisierenden Debatten mehr Teilhabe und rechtliche Gleichstellung von Menschen mit Einwanderungsgeschichte.
Auch unsichere Aufenthaltsperspektiven sind ein Risikofaktor für mentale Stabilität und Resilienz. Den hier ankommenden Menschen muss eine Perspektive gegeben werden, dazu gehört auch, dass die ausländerrechtlichen Verfahren so schnell wie möglich zu einem belastbaren Ergebnis geführt werden. Menschen mit befristeten Aufenthaltsmöglichkeiten muss eine Perspektive auf einen dauerhaften Aufenthalt durch eine Ermöglichung des Wechsels zwischen den Aufenthaltstiteln und -zwecken angeboten werden. Arbeitsverbote während des Verfahrens sind kontraproduktiv und gehören abgeschafft.
An die Ursachen gehen: Arbeit der Sicherheitsbehörden verbessern
Der Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag am Breitscheidplatz hat aufgezeigt, dass von den Sicherheitsbehörden oftmals bestehende Befugnisse nicht ausgeschöpft wurden und die eine Hand nicht weiß, was die andere tut. Trotz Überwachung von Mobiltelefonen, trotz Einsatz von V-Personen, trotz Erkenntnissen mehrerer Behörden über den Attentäter ist der Anschlag nicht verhindert worden. Die bisherige Aufklärung der Neuköllner Anschlagsserie deutet darauf hin, dass diese Probleme im Bereich der politisch motivierten Kriminalität weiterhin bestehen. Informationen werden nicht zusammengeführt oder der Quellen- und Methodenschutz verhindert den Schutz von potentiellen Opfern. Wir finden: Diese Missstände sind zu beheben, bevor immer wieder neue Befugnisse gefordert werden.
Auch müssen Behörden in die Lage versetzt werden, geltendes Waffenrecht durchzusetzen. Noch immer sind etwa 1.500 Neonazis und Reichsbürger im Besitz von waffenrechtlichen Erlaubnissen, die nicht entzogen wurden. Auch die routinemäßige Kontrolle von Legalwaffenbesitzer*innen durch die Berliner Waffenbehörde findet nur in sehr großen Abständen statt. Das muss sich ändern.
Selbstverständlich sind die genannten Maßnahmen langfristiger und nicht sofort für alle sichtbar. Wenn daran aber mit dem gleichen Nachdruck gearbeitet würde wie derzeit an der grundrechtsfeindlichen Symbolpolitik, wäre deutlich mehr für die Sicherheit gewonnen.
Und letztlich profitieren auch Terrororganisationen wie der IS davon, dass sie durch ihre Terrorakte die Gesellschaft spalten und in Angst versetzen. Wenn nun Geflüchtete unter Generalverdacht geraten, wenn Hass, Rassismus und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft verstärkt werden, geht ihr Kalkül auf. Verlieren wird die offene Gesellschaft und die Demokratie, gleichzeitig wächst der Nährboden für Radikalisierung. Demokratie und die Menschenrechte aller zu verteidigen ist gerade in Zeiten wie diesen eine große Herausforderung, der wir uns als Linke stellen werden.