Mit Solidarität und Besonnenheit gegen das Coronavirus
"Im Umgang mit dem Coronavirus wird sich zeigen, wie wir als Gesellschaft zusammenleben wollen. Was wir brauchen sind Solidarität, Besonnenheit und Verantwortungsbewusstsein - jeder und jedes Einzelnen und im Umgang miteinander.", sagt Carola Bluhm.
56. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 26. März 2020
Zur Aktuellen Stunde "Die Coronakrise gemeinsam meistern – solidarisch, konsequent, unbürokratisch"
Carola Bluhm (LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Berlinerinnen und Berliner! Dass die Krise auch eine Chance für mehr Gemeinsamkeiten sein kann, das hat die Opposition bisher noch nicht unter Beweis stellen können.
Ich danke den Menschen, die mit ihrem täglichen Tun unser Gemeinwesen in diesen schwierigen Zeiten am Laufen halten, in der Pflege, im Krankenhaus, in Apotheken, in der Feuerwehr und Polizei, in der Notbetreuung von Schulen und Kitas, im Supermarkt, in den Verkehrs- und Entsorgungsbetrieben und anderen wichtigen Bereichen. Wäre es möglich, das jedem und jeder einzeln zu sagen, ich täte es gerne. Diese Menschen sind das Rückgrat unserer Gesellschaft. Worauf es aber ankommt, ist, diese Menschen jetzt in ihrer Arbeit zu unterstützen, indem wir uns an die Regeln halten, aber auch, indem wir ihnen schnellstmöglich all die Mittel zur Verfügung stellen, die sie brauchen, um Leben zu retten und sich dabei selbst zu schützen.
Wenn wir in Zukunft über die Arbeitsbedingungen und Bezahlung in Fürsorgeberufen und im Gesundheitssystem debattieren, über die Ausstattung dieser Systeme und die Unterstützung, die sie brauchen, dann müssen und werden wir uns dieser Krisenzeiten zu erinnern haben und die richtigen Entscheidungen treffen und Schlussfolgerungen ziehen. Die Welt wird eine andere sein, und deshalb werden wir uns ändern müssen. Ja, unser Gesundheitssystem ist vor allem aufgrund des starken öffentlichen Sektors besser aufgestellt als in vielen anderen Ländern. Trotzdem hat es auch hier unter dem jahrelangen Druck betriebswirtschaftlicher Optimierung gelitten. Wir merken jetzt, dass ein ausschließlich ökonomisch optimiertes System zwar in guten Zeiten funktionieren kann, in schweren aber nicht ausreicht.
Auch wir in Berlin bilden da keine Ausnahme und tragen Mitverantwortung für prekäre Arbeitsbedingungen und Personalmangel. Die Prozesse der Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen hatten zur Folge, dass wichtige Reserven abgebaut worden sind und Kapazitäten, die wir jetzt dringend brauchen könnten, nun neu und teuer geschaffen werden müssen. Wir wissen schon jetzt, dass uns das nicht noch einmal passieren darf, und wir werden das nicht vergessen.
Ich möchte mich bei all denen bedanken, die mit viel Einsicht und eigenverantwortlichem Handeln dazu beigetragen haben, die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen. Bei den Clubs, die freiwillig geschlossen haben, obwohl die Rechtsverordnung des Senates noch gar nicht in Kraft war. Bei den Geschäften, Kneipen, Restaurants, Kinos, Theatern, die verständnisvoll eine Schließung akzeptieren, obwohl diese ihre wirtschaftliche Existenz bedroht. Unser Dank wird sich in schneller und unbürokratischer Unterstützung ausdrücken, und ich bin froh, dass diese jetzt anläuft.
Es ist richtig, die Schuldenbremse in dieser Situation auszusetzen, um möglichst viele Schäden abzufedern. Dazu gehört auch, jetzt keine Gewerbemietverträge zu kündigen. Vielmehr appelliere ich an die Solidarität der Vermieter, den Betreiberinnen und Betreibern der Geschäfte und Restaurants entgegenzukommen. Sie werden nach der Pandemie nicht einfach die jetzt nicht servierten Essen verkaufen, um gestundete Mieten nachzahlen zu können.
Vor allem aber möchte ich mich bei den vielen Berlinerinnen und Berlinern bedanken, die durch ihr Verhalten zeigen, dass sie den Ernst der Lage verstanden haben und dass sie bereit sind, sich und ihre Mitmenschen zu schützen. Wer sich dieser Tage durch die Stadt bewegt und bewegen muss, kann es sehen und spüren. Der Umgang miteinander hat sich verändert. Abends sind die Straßen menschenleer, und tagsüber achten viele Menschen auf Abstand. Wir dürfen dabei aber nicht übersehen, die Ruhe auf den Plätzen hat eine Kehrseite. Alle müssen gerade ihr Leben neu organisieren und sind gezwungen, in ihren vier Wänden zu bleiben, aber nicht für alle sind diese vier Wände ein schöner Ort, der Rückzugsmöglichkeiten und Stressfreiheit ermöglicht. Viele haben zu Hause keinen Menschen, mit dem sie ihre Sorgen und Ängste teilen und von dem sie sich auffangen lassen können. Nicht nur Homeoffice mit Kindern bedeutet viel Stress, viele haben gerade ihren Job verloren und fürchten um ihre berufliche Existenz. Deshalb ist es so wichtig, jetzt erst einmal dafür gesorgt zu haben, dass zumindest vorübergehend niemand aus seiner Wohnung gekündigt und niemand zwangsgeräumt wird. Ebenso ein gutes Signal ist, dass die Energieversorger jetzt auf Strom- und Gassperren verzichten.
Doch es sind nicht nur die Existenzsorgen, die jetzt viele Menschen beschäftigen. Auch die Sorgen um Angehörige, die zu Risikogruppen gehören und die man jetzt nicht besuchen soll, treibt sie um, was sehr großen Druck für demenzkranke Menschen und ihre Angehörigen bedeutet. Für viele jüngere und ältere Menschen ist diese Zeit der erzwungenen Untätigkeit ein enormer Stress, verbunden mit der Angst vor der Zukunft. Deshalb ist es wichtig, dass wir alle Maßnahmen, die wir jetzt ergriffen haben, mit Augenmaß und Balance abwägen. So notwendig das in diesen Tagen ist, so wenig darf ihr Geltungsbereich über die Zeit der Krise hinaus gedacht werden. Die Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte in diesen Zeiten der Not muss einhergehen mit dem unbedingten Willen, alle Freiheitsrechte wieder in Kraft zu setzen, sobald und so schnell das möglich ist.
Und so richtig es ist, jetzt die sozialen Kontakte zu reduzieren und zu minimieren, so notwendig ist es für unser Leben, dass uns ein Mindestmaß davon erhalten bleibt, zumal, wenn wir davon ausgehen müssen, dass diese Situation nicht in ein paar Tagen vorüber ist. Nur so lässt es sich überhaupt durchhalten. In der Singlehauptstadt Berlin kann man sich nicht einfach auf die Kernfamilie fokussieren. Wir müssen dabei auch die unterschiedlichen sozialen Geflechte beachten, in denen die Menschen leben und füreinander da sind. Es macht einen großen Unterschied, ob ich mich in einem großen Haus mit Garten in Selbstisolation begebe oder in einer zu kleinen Wohnung im Hochhaus ohne Balkon lebe, ob ich mich entweder mit dem SUV zum Einkaufen begebe oder auf Abstand mit anderen auf einen leeren Bus warten muss. Die Krise verwischt die sozialen Unterschiede nicht, im Gegenteil, sie lässt sie für viele noch stärker zutage treten. Auch das dürfen und werden wir nicht vergessen.
Deshalb bin ich dem Senat sehr dankbar, dass er diese Perspektive auch in einer Reihe von angemessenen Ausnahmeregelungen berücksichtigt hat. Strenge Ausgangssperren und immer mehr Einschränkungen sind kein Allheilmittel. Was nutzt die schärfste Regelung, wenn die Menschen sie gar nicht einhalten können, weil sie sie nicht aushalten oder gar nicht die Bedingungen vorfinden, sich daran zu halten, oder wenn ihnen sich nicht der Sinn erschließt. Wir müssen auch noch konsistenter werden. Ich darf alleine im Park joggen, allein auf einer Parkbank sitzen muss auch möglich sein, und Sonne und Sauerstoff für die Menschen sind genauso wichtig in dieser Zeit, selbstverständlich die Abstandsregeln einhaltend.
Dann werden die Menschen auch die Einschränkungen, die wir uns jetzt alle auferlegen, besser verstehen, besser umsetzen und auch weitergeben. Das ist, glaube ich, ganz wichtig, denn die Bundeswehr wird dabei wohl nicht helfen. Das Ganze muss eine Angelegenheit der Zivilgesellschaft sein. Wir müssen aufeinander achten, und die Menschen tun es auch.
Wir sollten sehr genau auch auf unsere öffentlichen Äußerungen achten. Bedenken wir, nicht nur die Bilder von sterbenden Menschen in überfüllten Krankenhäusern erzeugen Angst, sondern auch die kaskadenhaften Forderungen nach immer drastischeren Einschränkungen des sozialen Lebens und bürgerlicher Freiheiten! Angst ist in jeder Krise der schlechteste Ratgeber. Stattdessen brauchen wir einen ernsthaften und sachlichen Dialog. Wir müssen uns auch wirklich die Zeit dafür nehmen, in dieser Zeit diesen Dialog zu führen. Wir brauchen die Expertinnen und Experten aus Medizin, Psychologie, Soziologie, Ökonomie, um die Folgen der in dieser Situation im Raum stehenden Maßnahmen verantwortungsvoll abwägen zu können. Zu dieser Diskussion gehört auch, dass man die Notwendigkeit bestimmter Einschränkungen infrage stellen können muss, gerade wenn es um Grundrechte geht.
Auch das ist essenziell in unserer Gesellschaft und für unsere Gesellschaft. Wir haben in sehr kurzer Zeit sehr tief greifende Einschnitte in das Leben aller Menschen in unserer Stadt vorgenommen. Wir alle sind in einer Situation, die wir vielleicht aus den Geschichtsbüchern kennen, aber selbst noch nie erlebt haben. Wir alle, insbesondere die Vertreterinnen und Vertreter des Senats, sind nicht vor Überlastung gefeit. Umso wichtiger ist es, dass wir alle unsere Entscheidungen immer wieder auf den Prüfstand stellen, sie hinterfragen, an neuen Erkenntnissen orientieren und an neue Entwicklungen anpassen, und das geht nur, indem wir fair und offen miteinander umgehen.
Im Umgang mit dem Virus wird sich zeigen, wie wir als Gesellschaft zusammenleben. Panik und Misstrauen, die sich vor allen Dingen momentan bei Hamsterkäufen in den Supermärkten zeigen, sind dabei schlechte Berater. Was wir brauchen, sind Solidarität, Besonnenheit und Verantwortungsbewusstsein jedes Einzelnen und im Umgang miteinander. Mir macht diese Stadt Mut. Mir machen die Menschen, die hier leben, Mut. Jeder Aushang in einem Hauseingang, auf dem steht: Wer braucht Hilfe? Ich kann helfen –, macht mir Mut. Jeder Mensch, der morgens zur Arbeit geht, um andere Menschen zu pflegen, zu heilen, zu beschützen, zu beraten, macht mir Mut. Die Frau, die an der Kasse sitzt, und jeder Mann, der mit dem Fahrrad durch die Stadt fährt, um seine Arbeit als ambulanter Pfleger zu tun, macht mir Mut. Jede Chat-Gruppe, in der weitere Hilfe organisiert wird, macht mir Mut. Alba Berlin hat mit seiner Idee, jeden Tag eine Sportstunde für Kita- und Schulkinder anzubieten, schon mehr als eine Million Klicks. Das ist eine gute Idee. Was die Schaubühne macht, was die Deutsche Oper macht, wie sich gerade die Freiwilligenarbeit neu organisiert, dass Menschen Musik von ihrem Balkon aus anbieten, das alles macht mir Mut. Das ist gelebte Solidarität, die Plattform für Kunst, die gerade entsteht, weil die Menschen, ganz unabhängig davon, ob es gerade finanziert wird, diese Solidarität ausdrücken wollen und weil sie einen Weg finden, der auch in der Krise zu gehen ist. Das ist gelebte Solidarität in unserer Stadt. Und diese gelebte Solidarität trägt uns in der Krise. – Vielen Dank!