Fehlendes Vertrauen, Lücken in der Aufklärung – Betroffene kommen zu Wort

Bericht zur Sitzung des Untersuchungsausschusses zum rechten Terror in Neukölln am 2. September 2022

Am Beginn des parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex sollten die Betroffenen der zahlreichen Anschläge und ihre Wahrnehmungen zu Tat und Tätern, zu Bedrohungen und zum Handeln der Behörden stehen. Mit Claudia und Christian von Gélieu sowie Heinz Ostermann wurden drei Zeug:innen gehört, die aus jeweils langjähriger Erfahrung zu den Entwicklungen im Neukölln-Komplex berichten konnten und selbst Opfer der rechten Anschläge wurden. Ihre Perspektiven und Wahrnehmungen sind für den Ausschuss besonders wertvoll, auch da sie genau an den Stellen ergänzen, an denen die bisherige Aufarbeitung des Neukölln-Komplex deutlich zu kurz kam. Insgesamt sparten die Betroffenen nicht mit Kritik an den Behörden, differenzierten dabei jedoch durchaus zwischen einzelnen Personen und Dienststellen. Der Vertrauensverlust in Behörden und Ermittlungen war allen Zeug:innen gemein, jedoch gab es zwischendurch auch Aussagen zu engagierten Einzelpersonen, denen ein Interesse an der Aufklärung der Anschlagsserie durchaus abgenommen wird.

Sonderkommissionen hatten kaum Mehrwert

Zweifelhaft bleibt weiterhin, welchen Mehrwert sowohl die Kommission Neukölln als auch die Besondere Aufbauorganisation (BAO) Fokus für die Ermittlungen hatten. So wurde deutlich, dass im Rahmen der BAO Fokus zwar Hinweise erneut geprüft wurden, aber keine:r der drei Zeug:innen als Betroffene erneut zu ihren Wahrnehmungen und ihrem möglichen Wissen um die politischen Zusammenhänge vernommen wurden. Insbesondere die Kommission Neukölln hat zudem offenbar alle Geschehnisse vor 2016 außen vor gelassen. Damit entsteht der Eindruck, dass die jahrzehntelange Vorgeschichte der jüngsten Anschlagsserie und die personellen und strukturellen Hintergründe, die zahlreichen Kennverhältnisse der Nazis untereinander und ein möglicher organisierter Charakter der Taten und ihr rechtsextremer Hintergrund bislang unzureichend betrachtet worden. So berichtete die Zeugin Claudia von Gélieu, dass zahlreiche Fragen, die sie der Kommission Neukölln gestellt habe, mit dem Hinweis, dies sei nicht im Ermittlungsauftrag enthalten, nicht beantwortet oder in den Bericht aufgenommen worden seien. Der bisherige Eindruck eines schwachen und lückenhaften Berichts der Kommission Neukölln, der gar nicht erst versucht hat, sich den Hintergründen und politischen Motiven der Anschlagsserie, den zahlreichen strukturellen Verflechtungen und der Historie zu nähern, verfestigt sich. Anhand der Geschichte der Galerie Olga Benario, die seit den 1980er Jahren immer wieder im Fokus der Nazis stand, zeigte Claudia von Gélieu deutlich auf, dass das Problem keineswegs erst seit 2016 besteht und dass jeder Versuch, den Neukölln-Komplex auf den Zeitraum seit 2016 zu begrenzen, problematisch ist und nicht zur Aufklärung beiträgt.

Lücken in der Aufklärung sind offensichtlich

Auch im derzeit anhängigen Verfahren am AmtsgerichtTiergarten gegen unter anderem Sebastian T., Tilo P. und Oliver W. sind längst nicht alle Taten, die von Betroffenen und Zivilgesellschaft dem Neukölln-Komplex zugerechnet werden, angeklagt. Vorbehaltlich der Anhörung weiterer Zeug:innen und der Zulieferung der notwendigen Akten verfestigt sich der Eindruck, dass bislang keine auch nur ansatzweise vollständige Aufklärung in Sachen Neukölln-Komplex erfolgt ist. Zugleich werden die Erfahrungen und das umfangreiche Wissen der engagierten Zivilgesellschaft und der Betroffenen bagatellisiert. Laut Heinz Ostermann haderten nicht nur fünf bis zehn Betroffene mit dem Vorgehen der Behörden, sondern reichen die Zweifel bis weit in die Mitte der Gesellschaft, der er als Buchhändler und vormaliger Controller in der Senatsverwaltung für Kultur, sich selbst zugehörig fühle.

Vertrauen in Behörden ist weg – aus Gründen

Aus drei verschiedenen Perspektiven wurde deutlich, woher der Vertrauensverlust in die Behörden bei den Betroffenen rühren könnte. Zum einen machten sowohl Claudia als auch Christian von Gélieu deutlich, dass nach dem Brandanschlag auf das gemeinsame Auto im Februar 2017 nur die „wirtschaftlich Geschädigte“ als Zeugin vernommen worden sei. Und dies obwohl auch Christian von Gélieu angab, Wissen und Wahrnehmungen zu den mutmaßlichen Hintergründen der Tat beisteuern zu können. Zudem sei die Vernehmung erst Wochen nach der Tat erfolgt und nicht etwa in der gleichen Nacht. Zwei Hinweise aus der Nachbarschaft, darunter einer auf einen auffälligen schwarzen SUV mit Heidelberger Kennzeichen, wurden laut Aussagen sogar noch später aufgenommen. Das stand im Widerspruch zu einer Zusicherung gegenüber Christian von Gélieu, man habe in einem „Großeinsatz“ in der Nachbarschaft nach Hinweisen gesucht. Anzeichen dafür hätten jedoch weder er noch seine Frau oder die Nachbarschaft wahrgenommen.

Alle drei Zeug:innen berichteten davon, dass das Vertrauen in die Behörden auch deshalb zerstört sei, weil auch mögliche Verstrickungen von Beamt:innen in den Neukölln-Komplex weiterhin im Dunkeln lägen. Der Zeuge Ostermann berichtete von seiner tiefen Verunsicherung angesichts der drei auf ihn erfolgten Anschläge im Dezember 2016, Januar 2017 und Februar 2018. Nur das Ermittlungsverfahren zum letzten Anschlag sei nicht eingestellt worden, obwohl die Taten als „Serie“ erkannt worden seien. Einen weiteren Autobrand in der Umgebung seines Wohnhauses im August 2018 betrachtete er als Warnung an ihn. Auch Claudia von Gélieu berichtete davon, dass noch im Winter 2020/2021 mit einem Brandanschlag auf die Küsterei der evangelischen Kirchengemeinde mindestens ein weiterer Verdachtsfall vorliege. Noch im August 2022 sei sie zudem im Rahmen einer Filmvorführung zu Angehörigen der NSU-Opfer auf Sebastian T. getroffen, der ihr gesagt habe, er sei ein „Feind“ dessen, was sie da tue.

AfD mit Verharmlosung und Diskreditierung

Die AfD gab im Ausschuss ein desolates Bild ab. Der Abgeordnete zeigte sich unkonzentriert und schlecht vorbereitet und trotz seiner vorherigen Verwendung als Richter nicht vertraut mit der Beweiserhebung durch Einvernahme von Zeug:innen. So stellte er fortwährend eigentlich unzulässige Wertungs-, Einschätzungs- und Suggestivfragen in dem Versuch, die Zeug:innen und ihre Erfahrungen zu diskreditieren. Auch versuchte er, mit sachfremden Fragen zu Linksextremismus oder der Abwertung der Brandanschläge und Morddrohungen zu „Sachbeschädigungen“, den Neukölln-Komplex zu bagatellisieren. Alle drei Zeug:innen parierten jedoch mit Ruhe und Sachverstand und so wurde der Versuch der „Reinwaschung“ der AfD ins Gegenteil verkehrt. Eher wurde noch stärker offensichtlich, wie tief die Rechtsextremen selbst in den Neukölln-Komplex verstrickt sind und wie wenig Sachverstand sie mitbringen, selbst wenn es darum geht, ihre eigenen Interessen zu vertreten.

Wie geht es weiter?

Der Ausschuss wird in den nächsten Sitzungen weitere Betroffene der Anschlagsserie hören und die Expertise von zivilgesellschaftlichen Organisationen einholen. Welche Komplexe des Untersuchungsauftrags mit welchen Behördenzeug:innen danach behandelt werden, ist noch offen, was insbesondere an den schleppenden Aktenlieferungen durch die Verwaltung liegt. Hier gilt es, den Druck weiter zu erhöhen.