Anne Helm: 75 Jahre GG - Freiheitsrechte und Sozialstaatsprinzip gerade unter Druck verteidigen!

Das Grundgesetz ist keine Schönwetterveranstaltung - Freiheitsrechte und Sozialstaatsprinzip gerade unter Druck verteidigen!

Rede von Anne Helm in der Aktuellen Stunde zum 75. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes

Frau Präsidentin, 

sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, 

Das Grundgesetz feiert seinen 75. Geburtstag und wir feiern mit. Geschaffen vom parlamentarischen Rat, an dem die Vertreter*innen Berlins nur mit beratender Stimme teilnehmen konnten, trat es am 23. Mai 1949 in Kraft.Bayern hatte übrigens nicht zugestimmt. Es war ein historischer Kompromiss, vor allem zwischen Union und SPD. 

Nach den Erfahrungen der barbarischen NS-Zeit mit dem Versuch der vollständigen industriellen Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, steht die Würde des Menschen im Mittelpunkt des Grundgesetzes. Sie prägt das zentrale Menschenbild und ist das zentrale Prinzip des Grundgesetzes.

Nie wieder soll der Mensch zum reinen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden dürfen. Artikel 1 definiert die Würde des Menschen nicht nur als unantastbar, er verpflichtet auch alle staatliche Gewalt, sie zu schützen und zu achten. 

Was so schlicht wirkt, ist die zentrale Herausforderung der Demokratie. Die Würde des Menschen findet sich im Diskriminierungsverbot des Artikels 3 Absatz 3, aber auch in der Ewigkeitsgarantie des Sozialstaatsprinzips. 

Wie alle 75-jährigen hat auch das Grundgesetz Veränderungen durchlebt. Genau genommen 67.

Eine der positiven Änderungen bezieht sich auf Artikel 3.

Das Grundgesetz hatte viele Väter, aber nur vier Mütter.

Ihnen ist der damalige Artikel 3 Abs. 2 Grundgesetz zu verdanken. Dieser sah die Gleichberechtigung von Mann und Frau vor.

Trotzdem durften Frauen in der BRD bis 1977 nicht ohne Erlaubnis ihres Mannes einer Erwerbsarbeit nachgehen. 

Im Jahr 1994 wurde dann der Auftrag an den Staat, die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinzuwirken, im Grundgesetz ergänzt.

Um diesem Auftrag gerecht zu werden, haben wir immer noch eine Menge zu tun.

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wenn wir über 75 Jahre Grundgesetz reden, müssen wir aber auch über Veränderungen reden, die 1949 nicht vorstellbar gewesen wären. 

Die Unverletzlichkeit der Wohnung wurde 1998 gegen breite Proteste eingeschränkt, Stichwort “Großer Lauschangriff”.

1993 wurde das Grundrecht auf Asyl in Artikel 16 de facto abgeschafft. Er war eine direkte Lehre aus dem bitteren Schicksal vieler Verfolgter, die wegen Ab- oder Ausweisungen anderer Länder der Ermordung durch den NS-Staat nicht entkommen konnten. Der einfache, aber so wichtige Satz „Politisch Verfolgte genießen Asyl“ wurde mit dem neuen Artikel 16a relativiert.

Beides Änderungen, die man als Einschränkungen des ersten und wichtigsten Artikels verstehen muss.

Die gleichgeschlechtliche Ehe ist mittlerweile möglich, und das ist auch gut so. Die Würde des Menschen gebietet es, dass erwachsene Menschen, die sich lieben, auch die Ehe eingehen können. Das BVerfG hat das über Jahrzehnte anders gesehen und erst nach der gesetzlichen Öffnung der Ehe für alle festgehalten, dass die Ehe im Sinne des Grundgesetzes „eine rechtlich verbindliche, im Grundsatz auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft ist.“ Unabhängig vom Geschlecht.

Damit hat das Verfassungsgericht eine gesellschaftliche Debatte nachvollzogen. Das Grundgesetz nach seinem Grundsatz im Sinne der Zeit zu interpretieren und zu diskutieren ist eine gesellschaftliche Aufgabe und gehört zu seiner Pflege dazu.

In diesem Sinne diskutieren wir auch den Volksbegriff. Im Artikel 20 heißt es “Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus”. Nicht “vom deutschen Volke”.

Es kann nicht im Sinne des Grundgesetzes sein, dass ein Drittel der Berlinerinnen und Berliner zwar der Staatsgewalt unterworfen ist, aber wegen der falschen Staatsangehörigkeit nicht wählen oder abstimmen kann. Das muss sich endlich ändern! 

Die Würde des Menschen als zentrales Prinzip des Grundgesetzes wird vielfältig in Frage gestellt.

Alle Demokratinnen und Demokraten müssen es gegen Angriffe verteidigen von jenen, die die Würde von Abstammung, Geschlecht oder Religionszugehörigkeit abhängig machen wollen und die mit Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit nichts anfangen können. 

Aber der Aufstieg von Faschisten ist nicht die einzige Gefahr für unsere Verfassung. Es macht mir Sorgen, wenn aus demokratischen Parteien und der Mitte der Gesellschaft heraus das Sozialstaatsprinzip in Frage gestellt wird, obwohl es einer Ewigkeitsgarantie unterliegt. 

Wenn das Existenzminimum nicht mehr für alle Menschen gelten soll und in Zeiten der Inflation ernsthaft darüber debattiert wird, es noch weiter zu senken. 

Wenn die Krankenhausversorgung der Profitmaximierung unterworfen wird und damit die Behandlung von Kranken in Frage gestellt wird.

Das Grundgesetz ist keine Schönwetterveranstaltung, es muss auch in schwierigen Zeiten gelten.

Die Freiheitsrechte des Grundgesetzes und die Ewigkeitsgarantie des Sozialstaatsprinzips müssen gerade dann verteidigt werden, wenn sie wegen Wirtschaftskrisen oder verschärften Sicherheitslagen unter Druck stehen. 

Denn gerade dann werden sie am meisten gebraucht.

 

Frau Präsidentin, 

sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, 

die Berlinerinnen und Berliner haben im Jahr 2021 die Entscheidung getroffen, den Artikel 15 des Grundgesetzes zum allerersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik zur Anwendung zu bringen und eine Vergesellschaftung von Grund und Boden großer Immobilienkonzerne vorzunehmen. Diese historische Chance war dem Engagement vieler ehrenamtlicher Aktivistinnen und Aktivisten von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ zu verdanken. 

Es gab von konservativer und wirtschaftsliberaler Seite eine massive Gegenkampagne mit absurden Argumenten. Deshalb muss ich hier nochmal klarstellen: Vergesellschaftung ist kein Teufelszeug, sie steht im Grundgesetz. Der Parlamentarische Rat hat sie ausdrücklich vorgesehen. 

Nur deshalb hat die SPD dem historischen Kompromiss doch zugestimmt.

Artikel 14, der die Enteignung regelt, und Artikel 15, der die Vergesellschaftung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln erlaubt, sind seit der Verabschiedung des Grundgesetzes unverändert geblieben. Enteignet wird im Übrigen auch ständig für Infrastrukturprojekte wie Autobahnen oder Pipelines.

Natürlich gibt es die Eigentumsgarantie in Artikel 14, aber eben auch die Möglichkeit der Enteignung zum Wohle der Allgemeinheit. Aber es scheint manchmal so, als könnten die Marktgläubigen einen Artikel des Grundgesetzes nicht bis Absatz 3 lesen.

Wenn der Volksentscheid endlich umgesetzt und der Grund und Boden großer Immobilienkonzerne nach Artikel 15 vergesellschaftet wird, schließt das eine auf Profitmaximierung ausgerichtete Bewirtschaftung des betreffenden Wohnraums aus. Deshalb ja der Aufschrei der Immobilienlobby. Der Zweck von Wohnungen sollte doch sein, dass Menschen darin leben können.

Nach einer Vergesellschaftung würden die Mieten nur noch zur Bewirtschaftung und Instandhaltung, energetischen Modernisierung und Kredittilgung benutzt. Sie würden nicht mehr steigen und das hätte über den Mietspiegel auch Auswirkungen auf den Mietenmarkt allgemein. 

Es geht also darum einen zentralen Artikel des Grundgesetzes endlich mit Leben zu erfüllen,

Es geht darum, dringend benötigten Wohnraum und den Umgang damit zu demokratisieren, und die Berlinerinnen und Berliner haben sich auf eigene direktdemokratische Initiative dazu entschieden.

Ein demokratischeres und damit würdigeres Geschenk als ein Vergesellschaftungsgesetz kann ich mir zum 75.Geburtstag des Grundgesetzes überhaupt nicht vorstellen.

Der Volksentscheid muss endlich umgesetzt werden!

 

Frau Präsidentin, 

sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, 

wir feiern das Grundgesetz heute zurecht. Ich kann es Ihnen aber nicht ersparen, am Ende doch noch einmal auf die aktuelle Situation in Berlin zurückzukommen.

Seit X Sitzungen verweigern Sie dem Parlament die Debatte, wie Sie gedenken, mit der Haushaltssituation umzugehen.

Die Stadt lebt in Unsicherheit über die zukünftige Finanzierung der Daseinsvorsorge.

Sie, Herr Wegner, deuten immer wieder an, dass Sie sich für eine Reform der Schuldenbremse einsetzen wollen.

Die Schuldenbremse wurde 2009 in das Grundgesetz eingeführt. Heute ist für alle sichtbar, dass sie in Konflikt steht mit anderen grundgesetzlichen Aufträgen, wie der in Artikel 20a festgeschriebenen Verantwortung, die natürlichen Lebensgrundlagen für künftige Generationen zu schützen.

Die Debatte hier zu 75 Jahren Grundgesetz wäre eine gute Gelegenheit gewesen darzulegen, wie Sie konkret die Schuldenbremsen-Reformpläne vorantreiben und Mehrheiten für eine Grundgesetzänderung suchen. 

 

Die Linke wird das Grundgesetz auch weiterhin gegen Angriffe von Faschisten und Versuche der Aushöhlung von Grundrechten verteidigen. Wir werden weiter für die Umsetzung des Artikel 15 streiten, ebenso wie für die Abschaffung der Schuldenbremse.

Für eine Politik, die die Würde des Menschen achtet und schützt. Und die Grundlagen dafür auch für künftige Generationen erhält.