Alternativen, die es nie gegeben haben soll

von Peter-Rudolf Zotl

Am 11. Januar 1991 konstituierte sich in der Berliner Nikolaikirche das erste Gesamtberliner Abgeordnetenhaus. Seine wichtigste Aufgabe war, die Weichen zu stellen, wohin und wie sich Berlin nach der Wiedervereinigung entwickeln soll. Im Einigungsvertrag hieß es dazu im Artikel 1 Absatz 2 lediglich: „Die 23 Bezirke Berlins bilden das Land Berlin.“ Ob das aber über einen faktischen Beitritt von Ost- zu Westberlin oder als Zusammenführen zu einem neuen Ganzen oder ganz anders erreicht werden sollte, wurde der Entscheidung des Berliner Landesparlamentes überlassen.

Am Ende wurde es – wie im Westberliner Rathaus Schöneberg offenbar längst festgelegt – der Beitritt. Inzwischen melden nicht wenige einstige Befürworterinnen und Befürworter Zweifel an ihrer damaligen Entscheidung an. Doch zugleich hören wir oft von ihnen die trotzige Rechtfertigung, dass „es damals nicht anders gegangen sei, weil es keine Alternativen gab“. Doch genau das ist falsch. Es gab Alternativen. Sie hatten nur einen Makel: Sie stammten von der PDS…

Deren erste Abgeordnetenhausfraktion verkörperte das Prinzip einer „offenen Personenliste“. Ein gutes Drittel der zwölf weiblichen und elf männlichen Abgeordneten war nicht Mitglied der PDS, fünf kamen aus dem damals noch nahezu „PDS-freien“ Westberlin, einige hatten Leitungsverantwortung in der DDR getragen, andere in politischer Haft gesessen oder waren mit Einreiseverbot in die DDR belegt. Doch bei aller Vielfalt der Sozialisationen gab es eine Gemeinsamkeit: Niemand außer Dirk Schneider, der einst zur ersten Bundestagsfraktion der Grünen gehört hatte, verfügte über Erfahrungen mit gestaltungspolitischer Verantwortung in einem demokratischen Parlament in einer kapitalistischen Welt.

Diesem Erfahrungsmangel war nur durch gründliche Analysen, folgenkritische Abwägungen, Abkehr von ideologischen Dogmen, Verzicht auf Hinterzimmer und Sandkästen sowie ergebnisoffene Lernprozesse auch über die eigenen Reihen hinaus zu begegnen. Was nicht leicht war, aber gelang. Das soll hier nur exemplarisch erwähnt und nachfolgend der Fokus auf das zentrale Problem der neunziger Jahre – die entwicklungspolitische Perspektive des wiedervereinigten Berlins – gelegt werden.

„Weiter so!“ statt Neubeginn

Die Grundsatzentscheidung über den faktischen Beitritt von Ost- zu Westberlin war bereits Ende September 1990 gefallen. Damals wurde sowohl im Westberliner Abgeordnetenhaus als auch in der erst im Mai 1990 gewählten Ostberliner Stadtverordnetenversammlung über den rechtsstaatlichen Rahmen für das künftige Gesamtberlin abgestimmt. Deutlich zeigten sich dabei gegensätzliche politische Präferenzen:

Das Abgeordnetenhaus – die regierenden SPD und AL sowie die Opposition von CDU und Republikanern – votierte einstimmig für die nahezu totale Übernahme des Westberliner Landesrechts und so quasi für das alte Westberlin als neues Gesamtberlin. Ohne Not hatten SPD, CDU und AL damit das Beitrittsmodell für Berlin übernommen, obwohl der Einigungsvertrag – siehe oben – auch andere Optionen offen ließ. In der Folge dieser Entscheidung kam es zwar zur Beibehaltung vieler Westberliner Vorzüge und auch zu deren – oft sehr zögerlichen und nur teilweisen – Übertragung auf Ostberlin, aber auch zur Konservierung und Restauration aller seiner aus der Zeit gefallenen Rückschrittlichkeiten und Absurditäten. Zugleich wurde das faktische „Abschalten“ Ostberlins besiegelt, selbst jener Regelungen und Strukturen, die im Vergleich zu Westberlin fortschrittlicher oder sogar basisdemokratische Innovationen der Wendezeit waren.

In der Stadtverordnetenversammlung Ostberlins stimmten hingegen diesem Westberliner „Weiter so“ nur die hier regierenden SPD und CDU einmütig zu. Von der PDS-Fraktion kam ein ebenso einmütiges Nein. Sie lehnte diesen Weg ab und präferierte ein politisch und sozial ausgewogenes und auf das Wohl der Bevölkerung zielendes Zusammenwachsen. Die wenigen Liberalen enthielten sich mehrheitlich, und die  kleine Fraktion aus Bürgerbewegungen, Grünen und Bündnis 90 nahm an der Abstimmung nicht teil, weil sie eigentlich gegen diesen Beitritt war, aber ihre Westberliner Partner von der AL und deren Ja nicht brüskieren wollte.

In der ersten Sitzung des neuen Gesamtberliners Parlaments wurde dann noch – zwar eher symbolisch, aber doch symptomatisch und immer mit Gegenvotum der PDS  – eins „draufgesetzt“: Obwohl das Berliner Stadtparlament von seinen Anfängen bis zu seiner Spaltung 1948 die Bezeichnung „Stadtverordnetenversammlung“ getragen hatte, wurden der erst um 1950 in Westberlin als Provisorium eingeführte Name „Abgeordnetenhaus“ beibehalten und die Zählung als dessen 12. Legislaturperiode beschlossen. Klarer war das Verständnis der alten Westberliner Eliten über die „Vereinigung der Stadt“ nicht unter Beweis zu stellen...

Unmittelbar nach den Dezemberwahlen 1990 begannen – im Verein mit der Treuhandanstalt – denn auch Privatisierungen, Schleifungen bzw. Schrumpfungen der volkseigenen Betriebe sowie eines Großteils der wissenschaftlichen, medizinischen und kulturellen Einrichtungen im Ostteil. Es war keine „Ostalgie“, dass die PDS entschieden, aber nur im Einzelfall erfolgreich dagegen kämpfte, sondern die elementare Sorge um die materielle und geistige „Wertschöpfungs-Substanz“ der Stadt. In Westberlin begann gerade die Auflösung der „verlängerten Werkbänke“, weil das Aus ihrer üppigen Alimentierung aus Bonn avisiert worden war. So wäre es eine Frage existenzieller Vernunft gewesen, die Potenziale Ostberlins nicht zu schleifen, sondern zu erhalten und zu modernisieren.

Hunderttausende Menschen im Osten erfuhren jetzt erwerbsbiografische Demütigungen, politische Verdächtigungen sowie verletzende Entwertungen und Umdeutungen ihres Lebens. Der gigantische Elitenaustausch Ost gerierte zum Arbeitsbeschaffungsprogramm West, und gleichzeitig gab es im Osten unzählige im Versicherungs- und Taxigewerbe, im Würstchen- und Dönerverkauf, unter Wachleuten und im Zeitungsaustrag Tätige mit Diplom und Doktortitel. Und trotz aller Unwägbarkeiten blieb eines immer konstante Gewissheit: „Chef wird der Wessi!“

Um Straßenschilder, Denkmäler und Bausymbole im Osten entbrannten Kulturkämpfe, die aber bei genauer Betrachtung elementare Behauptungskämpfe gegen die Abwertung gelebten Lebens waren. Abgesehen davon, dass die reaktionären Traditionsbilder im Westen noch für lange Zeit ungeschoren blieben. Kurz: Der als Verbrüderung versprochene Systemwandel war durch das „Weiter so!“ zum Bruderkrieg mutiert. Der im Übrigen besonders krass auf dem Rücken „der Schwestern“ tobte…

Fremde Hilfe statt Paradigmenwechsel

Wie keine zweite Metropolenregion der Welt waren Ost- und Westberlin von der Systemauseinandersetzung geprägt und selbst zentraler Schauplatz dieser. Beide Berlins wurden von ihren Systemen gehegt und gepflegt, um möglichst viel Ausstrahlungskraft in die andere Welt hinein zu entfalten. Doch mit dem Wegfall der Blöcke war auch der politische Gebrauchswert der Berlin-Alimentationen geschwunden. Im Osten stand nach dem Untergang der DDR und ihrer Hauptstadt diese Frage ohnehin nicht mehr, und auch der Westen brauchte nun ein in den Osten strahlendes Berlin nicht mehr. So begann die Regierung Kohl – unverantwortlich in Tempo und Dimension – sofort mit der Streichung der großzügigen Sondermittel, auf denen aber ein Großteil der Attraktivität Westberlins basierte. Gab es Mittel und Wege – das wurde zur politischen Gretchenfrage –, um den Ausfall der Berlin-Subventionen zumindest teilweise auszugleichen?

In dieser Situation entwickelte die PDS-Fraktion das Konzept eines nötigen Paradigmenwechsels, heraus aus der Abhängigkeit von vorwiegend exogenen (äußeren) und hin zur Erschließung von endogenen (inneren) Entwicklungsfaktoren. Die bisherige Grundsatzfrage „Was  b r a u c h t  Berlin von anderen?“ sollte durch „Was  h a t  Berlin an inneren Potenzialen?“ ersetzt werden. Die PDS plädierte zum Beispiel – unterstützt von Expertinnen und Experten aus Ostberliner  Wirtschafts- und Wissenschaftseinrichtungen – für den innovativen Aus- und Umbau des damals noch existenten Industriepotenzials Ostberlins sowie der für Berlin typischen traditionellen Verbindung von Wissenschaft und Produktion und für eine entsprechende Einflussnahme auf die Treuhandanstalt. Sie entwickelte – erarbeitet von einer Forschungsgruppe aus der Freien und der Technischen Universität Berlin – ein detailliertes Konzept für eine sozialökologisch orientierte Modernisierungsoffensive der gesamtstädtischen Verkehrs-Infrastruktur und zur Bebauung des öffentlichen Raumes. Sie schlug – in Zusammenarbeit mit Stadtsoziologen von der Humboldt-Universität und der Nachfolgeinstitution der DDR-Bauakademie – Eckpunkte für den Auf- und Ausbau einer attraktiven Infrastruktur als Standortvorzug vor. Damals suchte die KSZE einen neuen Hauptsitz, und die PDS schlug in Anknüpfung an Berlins einstige Tradition als Ost-West-Drehscheibe vor, dass sich Berlin dafür anbot. Die Expertinnen und Experten prognostizierten aus einer solchen Hinwendung zu endogenen Entwicklungsfaktoren bis zu 300.000 neue Arbeitsplätze in Berlin und berechneten, dass sich der finanzielle Anfangsaufwand nach wenigen Jahren durch Neuansiedlungen und Steuereinnahmen  amortisieren und diese zu beträchtlichen Gewinnen für die Stadt führen würden.

Auch der Senat und die ihn tragenden Parteien orientierten auf neue Faktoren, die jedoch alle an einem krankten: In ihrem Wesen waren sie erneut von exogenen Entscheidungen abhängig und wenig durch politische Eigeninitiativen Berlins zu beeinflussen. Das war erstens der Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin, von dem man sich – durchaus berechtigt – einen Ansiedlungsboom erhoffte. Doch über diesen Umzug und seine Ausgestaltung wurde auf der Ebene des Bundes sowie aller Bundesländer entschieden. Er kam zustande, wenn auch so arg amputiert, dass die Ausgaben für Bund und Land noch immer deutlich über den Gewinnen liegen. Und weil die Parlamentarische Bundestags-Gruppe der PDS – intensiv von der Berliner Abgeordnetenhausfraktion „missioniert“ – nahezu einmütig mit Ja stimmte und so eine knappe Mehrheit für Berlin sicherte. CDU und SPD bekamen nicht einmal eine eigene Mehrheit zusammen.

Zweitens war es die umstrittene und von der PDS abgelehnte Bewerbung für die Olympischen Spiele 2000, deren Vergabe beim IOC lag, das sich dann für das australische Sidney entschied. Als Hauptgrund für die Nichtberücksichtigung Berlins wurde die massive Gegenwehr in der Bevölkerung angegeben. Die kam aber zustande, weil in unheilvoller Westberliner Tradition bereits die Olympiabewerbung zur Goldgrube von Baumafia und Grundstückspekulanten geworden war und zur Mietenexplosion in der City, aber nicht – wie versprochen – zur Förderung des Berliner Sports geführt hatte.

Und das war drittens die zum einseitigen Vorteil für das alte Westberlin ausgestaltete Länderfusion mit Brandenburg, für die ein Volksentscheid erforderlich war, der dann am Brandenburger Negativ-Votum (das es übrigens auch in Ostberlin gab und was die PDS empfohlen hatte) scheiterte. Stark dazu beigetragen hatte die Ankündigung der Berliner CDU, nach der Fusion „die sozialistischen Wärmestuben in Brandenburg mit eisernem Besen auskehren“ zu wollen.

In der zweiten Hälfte der Neunziger schwenkte die Große Koalition doch noch auf endogene Entwicklungsfaktoren um. Aber ihr fiel nichts Besseres als die Privatisierung von Unternehmen und Grundstücken ein, über die etwa 4 Milliarden DM in die Kassen kommen sollten. Man stellte diese Summe sogar schon als zu erwartende Einnahme in den Haushalt ein, wodurch nun auch die Letzten erkannten, wie sehr Berlin auf diese Verkäufe angewiesen war. Und da die für Privatisierungen avisierten Unternehmen besser als der Senat „Kapitalismus konnten“, boten sie nur ein gutes Drittel des schon fest eingeplanten Verkaufserlöses, und Berlin hatte erneut das Nachsehen. Zudem wurden Unsummen in den Aufbau einer Berliner Landesbank gesteckt, die sich dann als Luftnummer erwies und den Schuldenberg dramatisch erhöhte. Auch die mit viel Vorschusslorbeeren bedachte Bezirksgebietsreform brachte unter dem Strich nicht die vom CDU-Innensenator prognostizierte Entlastung der finanzpolitischen Misere, sondern beförderte das Fiasko.

Arroganz statt Dialog

Berlin als Werkstatt der Einheit - das war der zu Beginn der neunziger Jahre so oft verkündete selbstbewusste Anspruch, mit dem der damalige Senat aus CDU und SPD in das für die Zukunft Berlins so entscheidende Jahrzehnt ging. An dessen Ende wurde dieser Slogan erneut bemüht, aber diesmal als kleinlaute Entschuldigung für all die Pleiten, Pech und Pannen. Das eigentlich Skandalöse an dem war jedoch nicht das Scheitern, das muss in der Politik zwar immer zu vermeiden versucht, aber einkalkuliert werden. Das eigentlich Skandalöse war die Arroganz, mit der sich CDU und SPD  über seriöse Projektkritik und Alternativüberlegungen der linken Opposition hinwegsetzte und eine Sachdebatte verweigerte.

Um die Wende zum 21. Jahrhundert war das Ende der Großen Koalition gekommen, aber ihr fatales strategisches und finanzielles Erbe wirkte noch lange als Ballast für die späteren Koalitionen. Hingegen hatten die weitestgehend verlässliche soziale Ausrichtung und die politisch machbaren Alternativvorschläge der PDS in den neunziger Jahren der Partei ständig wachsende wahlpolitische Erfolge gebracht und sie ab 1992 in Bezirks- und ab 2002 in landespolitische Regierungsverantwortung geführt. Ohne auch nur einen einzigen ihrer damaligen und späteren Fehler und Irrtümer zu übersehen oder für die Zukunft ausschließen zu wollen, kann man konstatieren, dass sich die Partei in den neunziger Jahren ein solides Fundament geschaffen hatte, auf dem sich eine solide Zukunft bauen ließ. Oder um es mit dem revolutionär-demokratischen Publizisten des deutschen Vormärz Ludwig Börne zu sagen: „Die Lebenskraft eines Zeitalters liegt nicht in seiner Ernte, sondern in seiner Aussaat.“ Und die ist aufgegangen…