Ein zweiter Frühling der direkten Demokratie.

Zum Stand und zur Reform der Bürgerbeteiligung in Berlin.

Konzept von Klaus Lederer, September 2014.

Vorbemerkung und Inhalt

Ein zweiter Frühling der direkten Demokratie

Dieses Papier beinhaltet eine Bilanz direkter Demokratie, eine politische Einschätzung zur Wirkung und der Praxis im Umgang mit direkter Demokratie in Berlin und eine Auseinandersetzung mit den gegenwärtig diskutierten Ansätzen zur Verbesserung direkter Demokratie in Berlin. Es schließen sich die Vorschläge an, die die Linksfraktion auf ihrer Fraktionssitzung am 23. September 2014 diskutiert und unterstützt hat.

Zunächst nehme ich im ersten Teil eine politische Einschätzung der Entwicklung direkter Demokratie in Berlin seit 2006 vor. Während Verfahren der direkten Demokratie inzwischen zur Selbstverständlichkeit Berliner Stadtpolitik geworden sind, ist die Bürgerbeteiligung an politischen Planungs- und Entscheidungsprozessen nach wie vor defizitär. Mit dem Tempelhof-Volksentscheid ist die Politik von Senat und Koalition in eine Legitimationskrise geraten.

Im zweiten Teil beschreibe ich, welchen Beitrag direkte Demokratie leisten kann, um die demokratischen Defizite in Berliner Bürgerbeteiligungsverfahren zu überwinden. Es zeigt sich, dass Bürgerbeteiligung – anders als die auf Legitimation und Mobilisierung,  also  auf  „Einbindung“  der  Bevölkerung  angelegten  herkömmlichen  Verfahren  – erheblichen politischen, aber auch fiskalischen Nutzen für Berlin haben kann. Die Frage ist, ob SPD und CDU bereit sind, tatsächlich ernsthaft umzudenken oder ob es ihnen nur um die Rückgewinnung der Legitimation für ihre Politik im Allgemeinen oder eine Olympiabewerbung im Besonderen geht.

Im dritten Teil setze ich mich deshalb mit dem Vorschlag aus der Koalition zur Einführung von Volksbefragungen auseinander, der einer Verfassungsänderung bedarf. Volksbefragungen sind tendenziell eher   Ausdruck eines elitären und autoritären   Demokratieverständnisses „von oben“. Tatsächlich gebraucht würden aber egalitäre und partizipationsbezogene Ansätze, Instrumente und Bürgerbeteiligungsprozesse „von unten“.  Dem Ansatz einer Volksbefragung stelle ich deshalb die latente Korrekturmöglichkeit von Parlamentsentscheidungen durch fakultative Volksreferenden gegenüber. Nur Erleichterungen für die direkte Demokratie auf Initiative aus der Stadtgesellschaft bieten tatsächlich eine Chance für einen Zugewinn an Gestaltungsmacht für die Berliner*innen. Ergänzt werden können solche  Referenden  durch „obligatorische  Referenden“. Das ist beispielsweise die von uns vorgeschlagene „Privatisierungsbremse“ oder die Abstimmung über Investitionen ab einer gewissen festgelegten Höhe (Finanzreferenden). Mit hohen Sicherungen (qualifizierte Parlamentsmehrheit und Minderheitenrecht einer Alternativvorlage) ist ergänzend auch ein parlamentsinitiiertes Referendum denkbar, also dann, wenn durch Vorkehrungen der Missbrauch dieses Instruments weitgehend ausgeschlossen wird.

Im vierten Teil fasse ich dann die Vorschläge zusammen, die aus meiner Sicht für eine Verbesserung direkter Demokratie in Berlin diskutiert werden sollten.

Klaus Lederer
Sprecher der Linksfraktion für Recht und Verbraucherschutz
Berlin, 24. September 2014

Konzept

I. Kurze Bilanz direkter Demokratie in Berlin: Vom Schlusslicht zum Spitzenreiter, vom Spitzenreiter ins Mittelmaß

1. Rot-rote Fortschritte: direktdemokratische Erleichterungen auf Bezirks- und Landesebene

Im Jahr 2006 haben die Berlinerinnen und Berliner in einem Volksentscheid parallel zur Berlin-Wahl über die Veränderung ihrer Landesverfassung abgestimmt. Gegenstand dieser Abstimmung war die von der PDS/Linkspartei.PDS angestoßene, über das Jahr 2005 unter den Fraktionen des Abgeordnetenhauses verabredete und vom Parlament verabschiedete Erneuerung der direkten Demokratie in Berlin. Mehr als 83 Prozent der Berliner*innen stimmten damals für eine Ausweitung ihrer Bürgerrechte, direkt und unmittelbar mitentscheiden zu können.

Die Hürden wurden gesenkt, die Rahmenbedingungen für die Initiierung erleichtert, die möglichen Themen direkter Demokratie – insbesondere  durch  Streichung  des  „Haushaltstabus“,  also  des  generellen Verbots jeglicher haushaltsrelevanter Entscheidungen durch das Volk – ausgeweitet. Auch die Vereinfachung bezirklicher Bürgerbegehren und -entscheide hatte die rot-rote Koalition beschlossen. Es  war  das  Ziel,  Berlin  vom  Schlusslicht  im  Bundesvergleich  zur  „Hauptstadt  direkter  Demokratie“  zu   machen. In den Jahren 2008 und 2010 folgten Änderungen des Abstimmungsgesetzes von Berlin, welches die Modalitäten der Durchführung direkter Demokratie vorgibt, mit der gleichen Intention.

2. Berlin auf dem Sprung an die Spitze

Berlin gelang in der Tat ein großer Sprung nach vorn! Für kurze Zeit fand sich unsere Stadt beim Ländervergleich  des  Vereins  „Mehr Demokratie“  nicht mehr als Schlusslicht, sondern an der Spitze wieder. Erstmalig rückte mit dieser Veränderung die Möglichkeit eines erfolgreichen Volksbegehrens oder Volksentscheids in das Bewusstsein der Berliner Stadtgesellschaft.

Die direkte Demokratie in unserer Stadt wurde genutzt und nahm Fahrt auf. Es war sogar zuerst das konservative Milieu Berlins, das – mit offener Unterstützung der volksgesetzgebungskritischen CDU – durch die Volksbegehren zur Offenhaltung des Flughafens Tempelhof 2008 und für die Einführung eines Wahlpflichtfachs Religion an den Berliner Schulen 2009 den Auftakt machte. Beide Volksbegehren richteten sich gegen die Politik der rot-roten Koalition und waren in beiden Stufen erfolgreich. In den damit erkämpften Volksentscheiden allerdings scheiterten sie. Beim ersteren wurde das notwendige 25 %-Quorum an Ja-Stimmen verfehlt, das zweite Anliegen lehnten die Berliner*innen sogar mehrheitlich ab. Die Zulässigkeit eines Volksbegehrens zur Verbesserung der Kitaausstattung 2008 musste zunächst gegen die Position des Innensenats erstritten werden. Sein Erfolg führte aber 2009 zur Verständigung zwischen Senat und Initiative, die angestrebten Ziele zum Kita-Ausbau stufenweise umzusetzen. Ein Volksentscheid wurde damit unnötig.

Auch auf der Bezirksebene wurde zunehmend von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, politische Interessen zu artikulieren und über bezirkliche und kiezbezogene Belange mitzuentscheiden. Ob zur Nutzung des Spreeufers, der Erhaltung von Kleingärten oder zur Ablehnung der Parkraumbewirtschaftung: Die Bürgerinnen und Bürger in den Bezirken waren aktiv.

Es folgten der erfolgreiche Volksentscheid zur Offenlegung der Verträge über die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe BWB 2011, der knapp am Quorum der notwendigen Zustimmungsvoten gescheiterte Volksentscheid zur Rekommunalisierung des Berliner Stromnetzes und zur Gründung eines Stadtwerks 2013 und der wiederum erfolgreiche Volksentscheid zum vollständigen Verzicht auf die Bebauung des Tempelhofer Feldes im Mai 2014. Und schließlich das S-Bahn-Volksbegehren 2012/13: Es scheiterte letztlich nicht an Unterstützung in der Berliner Bevölkerung, sondern an der Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht, über die der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin zu entscheiden hat.

3. Stagnation bei Volksinitiativen und Verfassungsfragen

Die Zahl förmlicher politischer Initiativen aus der Stadtgesellschaft ist seit den rot-roten Verbesserungen spürbar angestiegen. Sofern es gelang, konkrete politische Interessen mit politischen Grundsatzfragen zu verbinden, breitere gesellschaftliche Bündnisse zu schließen und eine höhere mediale Aufmerksamkeit zu generieren, konnten verbindliche Instrumente direkter Demokratie in der Berliner Stadtpolitik wirksam eingesetzt werden. Sie waren oft erfolgreich oder haben zumindest symbolische Korrekturen der Koalitionsund Senatspolitik bewirkt. Wenig Einfluss auf die Stadtpolitik hatten dagegen solche Initiativen,  die  Parlament  und  Bezirksverordnetenversammlungen  „nur“  zur  Befassung mit einem Anliegen veranlassen sollten.

Auch Begehren zur Änderung der Landesverfassung gab es bislang nicht. Das liegt gewiss nicht am Mangel an geeigneten Themen. Fragen der Gestaltung des Schulunterrichts im Spannungsfeld von Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität, der Transparenz öffentlichen Handelns oder der Gestaltung der Daseinsvorsorge, die in den erfolgreichen Volksbegehren im Mittelpunkt standen, werfen durchaus auch verfassungsrechtliche Grundsatzfragen auf. Es sind die Hürden, die auch nach der Reform von 2006 – Zustimmung von mehr als zwei Dritteln der Abstimmenden, wobei die Zahl der Ja-Stimmen mehr als die Hälfte der Abstimmungsberechtigten betragen muss – abschreckend hoch sind. Eine Verfassungsänderung auf dem Weg direkter Demokratie erscheint im Jahr 2014 als nahezu unmöglich.

Es zeigt sich also: „Einfache“ Bürgerbegehren  und  Volksbegehren, Bürgerentscheide und Volksentscheide sind inzwischen selbstverständlicher Teil der Berliner Stadtpolitik geworden. Andere Instrumente der Beteiligung der Berliner*innen führen dagegen nach wie vor ein Schattendasein.

4. Unkenrufen zum Trotz: keine Handlungsunfähigkeit der demokratischen Institutionen

Warnungen vor der Handlungsunfähigkeit des politischen Systems Berlins haben sich als haltlos erwiesen. Ja, Initiativen haben auch politische Ziele oder Vorhaben in Aussicht gestellt, die aufgrund rechtlicher Bindungen (Bundesrecht, Bauplanungsund Ordnungsrecht, Eigentumsrechte, zivilrechtliche Verträge) rechtlich oder faktisch überhaupt nicht, nicht mehr oder jedenfalls nicht unmittelbar zu beeinflussen waren. Beispiele sind der Volksentscheid über die Offenhaltung des Flughafens Tempelhof, der Bürgerentscheid zu  „Mediaspree“, in gewisser Hinsicht auch der Volksentscheid über die Offenlegung der Wasserverträge. Aber selbst wenn die Kritik berechtigt war, dass diese Entscheide im Erfolgsfall nicht die unmittelbar intendierten Wirkungen zeitigen würden, so schafften es doch alle drei, grundsätzliche Fragen der Stadtpolitik auf die Tagesordnung zu setzen und einer breiteren Debatte zu unterwerfen. Das hatte dann mal mehr (Wasservolksentscheid) oder   weniger („Mediaspree“)  Auswirkungen auf die Politik.  

Die Kritik, dass Bürgeroder Volksinitiativen politisch unrealistische, weil nicht oder nicht ohne weiteres umsetzbare Forderungen aufwerfen könnten, ist deshalb zwar nicht gänzlich unberechtigt. Sie trifft aber erstens die etablierte institutionelle Politik auch, muss sich zweitens im Prozess des Zustandekommens und der Umsetzung von Entscheidungen direkter Demokratie sowie ihrer Akzeptanz konkret bewähren – und führt drittens zur Frage frühzeitigen Mitentscheidens, bevor in Größenordnungen Fakten geschaffen werden. Sie richtet sich also nicht gegen den Kern der Volksgesetzgebung. Es kommt darauf an, Beteiligungsprozesse so zu gestalten, dass die Bevölkerung jederzeit über Mitspracheund  Gestaltungsrechte  verfügt,  nicht  erst,  wenn es darum geht,  „die  Notbremse zu ziehen“. Darauf müsste sich die Politik also jetzt konzentrieren.

5. Direkte Demokratie veränderte Machtbalance, Entscheidungsmodi und politische Kultur Berlins

Selbst CDU und SPD haben sich mittlerweile an die Existenz direktdemokratischer Instrumente und Prozesse gewöhnt, wenngleich nicht ohne hin und wieder deutlich zum Ausdruck gebrachten Widerwillen, Herablassung oder sogar Geringschätzung gegenüber Initiativen mit stadtpolitischen Anliegen. Denn die Etablierung direkter Demokratie ist tendenziell verbunden mit einem „Machtverlust“  für   Regierung und Exekutive, auch der sie absichernden Parlamentsmehrheit. Sie kann sich nicht ohne weiteres darauf verlassen, dass sie – wie bislang durch die parlamentarische Koalitionstreue – für grundlegende stadtpolitische Entscheidungen, welcher Art auch immer, über weitgehende Rückendeckung verfügt.

Es ist nicht nur schwer für Teile der politischen Klasse, sich daran zu gewöhnen, in einzelnen politischen Sachfragen von den Berlinerinnen und Berlinern korrigiert zu werden. Mit dem Instrument der direkten Demokratie verfügen die Bevölkerung und stadtpolitische Akteure und Initiativen auch über eine Möglichkeit, die Entscheidungsmacht von Koalition, Regierung und Verwaltungen einzuschränken bzw. ihnen effektiv etwas entgegenzusetzen. Die potenziellen Spielräume für sachbezogene Oppositionspolitik erweitern sich auch, weil das Ritual fester Mehrheitsverhältnisse im Parlament nicht mehr das letzte Wort der Stadtpolitik darstellt. Direkte Demokratie verändert die Regeln für die stadtpolitische Auseinandersetzung und verschiebt dadurch zumindest potenziell auch die Kräfteverhältnisse bei der Debatte und Entscheidung über Fragen des Öffentlichen.

6. Taktisches Verhältnis der Koalition zu direktdemokratischen Verfahren

Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Senat und Koalition immer wieder versucht haben, in zweifelhafter Weise Einfluss auf direktdemokratische Prozesse zu nehmen – mittels Behinderung und Irreführung von Initiativen oder sogar des Souveräns selbst. Beispiele gibt es dafür genug. Das geschah in zurückliegenden Kampagnen durch die Terminierung von Volksentscheiden jenseits feststehender Wahltage, durch die Streuung des Verdachts der Listenmanipulation durch Initiativen in der laufenden heißen Sammlungsphase eines Volksbegehrens seitens politischer Vertreter der Berliner Verwaltung,   durch   das   „Auskontern“   von   Initiativen   mittels   symbolischer  Politik   von   Koalition   und   Senat (ganz eklatant im Fall des Stromnetzund Stadtwerksentscheids), auch durch bezahlte Werbeaktivitäten öffentlicher, vom Land kontrollierter Gesellschaften und durch die rechtswidrige Untersagung von Unterschriftensammlungen in öffentlichen Räumen, die von öffentlichen Unternehmen bereitgestellt und kontrolliert werden.

Nicht zuletzt deshalb ist Berlin inzwischen im bundesweiten Vergleich direkter Demokratie wieder in das Mittelfeld zurückgefallen. Es ist Zeit für einen zweiten Frühling der direkten Demokratie in Berlin.

7. Tempelhof-Volksentscheid als emanzipatorischer Akt: Legitimationskrise der Koalition

Der erfolgreiche Volksentscheid zum vollständigen Verzicht auf die Bebauung des Tempelhofer Feldes hat deutlich gemacht: Der Versuch des Senats und der Koalitionsspitzen, ihr eigenes Projekt der Stadtentwicklung als das  „im  Interesse Berlins“   liegende, ausschließlich „von Einzelinteressen bekämpfte“ und eigentlich doch alternativlose Konzept zu verkaufen, ist   gescheitert. Die Denunziation der von der Initiative  „100  %  Tempelhof“  aufgegriffenen  und  repräsentierten  Interessen  insbesondere durch führende Vertreter der  SPD  als  „egoistisch“  – quasi  im  Stil  Landowskys:  „anti-berlinisch“  – hat nicht verfangen. Sie richtete sich vor dem Hintergrund zunehmender sozial-räumlicher, mietenpolitischer und Flächennutzungskonflikte in Berlin letztlich sogar gegen den Senat selbst, als Ausdruck der Ablehnung gegenüber einer Stadtpolitik, die die Probleme nicht nur jahrelang ignoriert, sondern durch eine wettbewerbsund fiskaldominierte Liegenschafts-, Mietenund Stadtentwicklungspolitik auch noch forciert hat. Es gab die behauptete Übereinstimmung der vom Senat vertretenen Interessen mit denen der Mehrheit der Stadtgesellschaft nicht, die dem Volksentscheid zum Erfolg verholfen hat.

Der Ausgang des Tempelhof-Volksentscheids hat die Koalition, insbesondere die SPD, zumindest hinsichtlich stadtentwicklungspolitischer Großprojekte in eine tiefe Legitimationskrise gestürzt. Auch das institutionelle Gefüge aus Verbänden, Gewerkschaften, Kammern, das traditionell als Stimmungsbarometer diente, ob bestimmte Vorhaben in der Stadtgesellschaft auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen, wurde aufgrund seiner Zustimmungskampagne für die Senatsposition in Sachen Tempelhof mit delegitimiert. Die Koalition kann bei einem solch weitreichenden Projekt wie einer Olympiabewerbung daher derzeit gar nicht anders, als sich die Legitimation dafür auf dem Weg der direkten Demokratie von den Bürgerinnen und Bürgern einzuholen.

Angesichts dessen ist es derzeit eine offene Frage, ob in der Koalition jetzt tatsächlich ein ernsthaftes Umdenken eingesetzt hat oder ob es ihr nur um die Rückgewinnung der Legitimation für ihre Politik im Allgemeinen und das Projekt einer Olympiabewerbung im Besonderen geht.

8. Die Debatte über mehr demokratische Beteiligung ist jetzt notwendig

Wir, die Linksfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin, haben im September 2012 mit unserem Antrag  zur  Einführung  einer direktdemokratischen  „Privatisierungsbremse“  die  Debatte  darum  angeboten, inwieweit nach mehr als einem halben Jahrzehnt Erfahrung mit direktdemokratischen Instrumenten in Berlin nicht eine Stärkung und Ausweitung diskutiert werden muss. Wir wünschen uns einen ernsthaften und zielgerichteten Austausch zwischen den Berliner Parlamentsparteien über die Ansätze, Konzepte und Vorschläge zur Stärkung direkter Demokratie.

Wir wünschen uns aber vor allem, dass dieser Austausch mit einem hohen Maß an transparenter und öffentlicher Debatte mit der Stadtgesellschaft verbunden ist. Weil über direkte Demokratie nur gemeinsam mit denjenigen entschieden werden kann, die es betrifft – weshalb die Verfassung von Berlin in Art. 100 Satz 2 über die Änderungen der Volksgesetzgebungsvorschriften eine zusätzliche Volksabstimmung vorschreibt.

9. SPD und CDU müssen Vorschläge auf den Tisch legen

Bislang ist von den Spitzen der Koalition ausschließlich die Einführung einer verbindlichen Volksbefragung über eine Olympiabewerbung der Stadt ins Gespräch gebracht worden.

Wir sind davon überzeugt, dass direkte Demokratie eine Stärkung repräsentativer Demokratie mit sich bringt und deshalb nicht als ungeliebte und unerwünschte Konkurrenz durch Parteien, Parlament und Regierung begriffen und behandelt werden darf. Außerdem sind wir sicher, dass es beiden Verfahren – dem direkten wie dem repräsentativdemokratischen – schadet, wenn die politische Klasse und die politischen Institutionen in Berlin gegenüber der Beteiligung der Bürger*innen in großen Teilen ein taktisches, instrumentelles oder gar manipulatives Verhältnis pflegen.

Es reicht deshalb nicht aus, wenn wir ausschließlich über die Einführung einer verbindlichen Volksbefragung   diskutieren,   über   eine   „lex   olympia“.   Wir   müssen   darüber   reden,   welche   politischen   und   Beteiligungsinstrumente wir uns für Berlin wünschen, und welche Veränderungen in Verfassung und Gesetzen nötig sind, um die demokratische Mitbestimmung der Stadtbevölkerung offensiv zu befördern.   Wir   nehmen   es   ernst,   wenn   der   gemeinsame   Grundkonsens   dieser   Debatte   heißen   soll:   „Die   Berlinerinnen und Berliner sollen stärker in den bedeutsamen öffentlichen Angelegenheiten mitreden und letztlich auch entscheiden   können.“   Das   betrifft   dann   nicht   nur   die   Entscheidung   über   Olympia in der Zukunft, sondern alle Zukunftsfragen, die für Berlin von Relevanz sind.

Dazu haben SPD und CDU bisher aber keinerlei Vorschläge auf den Tisch gelegt. Es wird nicht reichen, immer wieder zu betonen, dass die Berlinerinnen und Berliner irgendwann vor einer endgültigen Entscheidung   über   „Olympia   in   Berlin“   2024   oder   2028   auch   verbindlich   befragt   werden   sollen.   Wir   erwarten von der Koalition jetzt schnell verbindliche und konkrete Überlegungen, wie die Beteiligung der Berlinerinnen und Berliner als kontinuierlicher Prozess ausgestaltet werden soll und welche Verfassungsoder Gesetzesänderungen hierzu vonnöten sind. Wir sind bereit, darüber zu verhandeln, was zu ändern ist.

II. Bürgerbeteiligung statt „Bürgereinbindung“

1. Grenzen herkömmlicher Bürgerbeteiligung und Planung in Berlin

Kein stadtpolitisches Vorhaben von größerer Bedeutung fällt einfach so vom Himmel, indem ein paar Politiker*innen eine mehr oder weniger gute Idee haben, die sie dann ganz wertund interessenfrei zur öffentlichen Debatte stellen. Solche politischen Vorhaben haben einen langen Vorlauf, werden von unterschiedlichsten und widerstreitenden Interessen getragen bzw. bekämpft, benötigen einen ausreichenden Planungsprozess und die Legitimation durch eine ganze Reihe von Akteuren und Interessengruppen. Der Prozess der Abwägung von Interessen, Effekten und Wirkungen der Entscheidung über solche Vorhaben vollzieht sich aber selten öffentlich und ergebnisoffen. Oft wird in der öffentlichen Auseinandersetzung und Debatte um hoch umstrittene Projekte eher verschleiert als wirklich sichtbar, wer von welchem Vorhaben, von welcher Entscheidung am Ende wirklich profitiert. Sind es private Investoren? Ist es der Landeshaushalt? Sind es breite Schichten der Bevölkerung? Eine ernsthafte Ausweitung der Bürgerbeteiligung setzt also zunächst voraus, transparente und verbindliche demokratische Informations-, Teilhabeund Planungsprozesse zu etablieren.

Derzeit versteckt sich die Berliner Politik hinter einem sehr stark verrechtlichten Planungsverständnis und den subjektiven Rechtsschutzmöglichkeiten vor den Verwaltungsgerichten, und zwar bei diversen stadtentwicklungsund infrastrukturbedeutsamen Projekten. Das betrifft viele der Wohnungsoder Gewerbeentwicklungsvorhaben, die Autobahnverlängerung der A 100, die Planfeststellung am BER, den Lärmschutz am BER, die BER-Flugroutendebatten.  Im  Ergebnis  setzt  sich  die  „von  oben“   gewollte Lösung durch, divergierende Ansprüche und Interessen werden auf den Rechtsweg verwiesen. Es handelt sich aber nicht um eine Rechtsfrage, ob und wie gebaut, geplant, dieses Interesse berücksichtigt und jenes Interesse nicht berücksichtigt wird. Das sind politische Fragen, die auch im demokratischen Beteiligungsprozess, soll er diesen Namen verdienen, politisch behandelt werden müssen.

Für Alternativen offene Planungsprozesse, breite Folgenabschätzung, Rückkopplung zu den betroffenen gesellschaftlichen Interessen finden in Berlin gegenwärtig kaum statt. Beteiligungsprozesse sind eher   elitär   und   autoritär   angelegt   („Bürgerwerkstätten“,   „Projektentwicklungsmoderation“),   durchgeführt   von   den   Consultants   der   „Beteiligungsindustrie“.   Dort   werden   dann   die   beteiligungswillige   und -fähige Bevölkerung integriert und potenzielle  „Widerstandsnester“  zu  Tode  moderiert.  Tempelhofer Feld, Mauerparkerweiterung und -bebauung...  Der Beispiele gibt es viele. Die marginalisierten Teile der Bevölkerung sind oftmals überhaupt nicht erst als artikulationsfähige Akteure in diesen Verfahren beteiligt – sie haben ganz andere, existenzielle Probleme.

2. Demokratisierung der Planung

Solche herkömmlichen Planungsprozesse stellen also nicht die wesentlichen Entscheidungsfragen zur ergebnisoffenen Diskussion, sondern sollen Zustimmung generieren und möglichst wenig Konfliktpotenzial bei der Durchsetzung der in den wesentlichen Grundzügen bereits vorgefertigten Planungen garantieren. Sie sind gerade nicht darauf angelegt, möglichst ausgegrenzte Interessenträger einzubeziehen und die Vielfalt der für solche Planungen relevanten Aspekte in die Entscheidungsfindung hineinzutragen. Genau das ist aber anzustreben: Planung als offener Prozess, als schrittweise, transparente und selbstkorrigierende politische Lernund Konfliktaustragungserfahrung aller Beteiligten.

Das kann nur gelingen, wenn die Verwaltung einen Funktionswechsel vollzieht. Ihre Aufgabe kann nicht daran bestehen, feststehende Projekte möglichst konfliktfrei zu exekutieren, sondern die Koordination und Flankierung des öffentlichen Interessenaushandlungsprozesses zu leiten, aus dem Planungsziele, -richtung und -schritte erst entstehen. Soziale Interessen zu identifizieren, den Trägern sozialer Interessen gegebenenfalls überhaupt erst zu helfen, diese Interessen zur Geltung zu bringen, Transparenz über die Handlungsalternativen herzustellen und Folgeabschätzungen einzufordern, ist ein aufwändiger und ein Lernprozess. Bezirksund Landesverwaltungen müssen in die Lage versetzt werden, solche Beteiligungsprozesse zu initiieren – nicht erst,  wenn  irgendwo  „viel  Krach  geschlagen   wird“,  sondern  als  den  typischen,  regulären  politischen  Algorithmus.  Das  braucht  Zeit,  braucht  einen   langen Atem. Es lässt sich nicht einfach anordnen, sondern muss als politische und Verwaltungspraxis rechtlich abgesichert und Schritt für Schritt etabliert werden.

3. Demokratische Bürgerbeteiligung erfordert ein Mindestmaß an Ressourcen

Vor allem ist ein solcher Veränderungsprozess nicht voraussetzungslos zu haben. Er erfordert die Bereitstellung eines Mindestmaßes an Ressourcen – sowohl für die Ausgestaltung des Beteiligungsprozesses als auch zur Sicherung von politischen Gestaltungsspielräumen.

Das gilt insbesondere für die Bezirksverwaltungen, die im engen Korsett ihrer Globalsummen gegenwärtig wenig faktischen Entscheidungsraum besitzen. Politische Entscheidungen sind immer interessengeleitet und finden nicht im luftleeren Raum statt. Wirtschaftliche Interessen, Grundeigentum, Investitionssicherung, Nutzungskonflikte – stadtpolitische Entscheidungen beeinflussen dieses Interessengefüge in die eine oder die andere Richtung. Schwierig wird es, wenn die rechtlichen und faktischen Spielräume soweit eingeengt sind, dass auch durch direktdemokratische Entscheidungen eigentlich überhaupt nichts mehr politisch entschieden werden kann. Das gilt für stadträumliche Entwicklungsprojekte, Bauvorhaben und Gestaltung des öffentlichen Raums gleichermaßen wie für die Erhaltung und Sicherung von Standorten der soziokulturellen Infrastruktur. Ohne ein Minimum an haushalterischen Spielräumen werden direktdemokratische Beteiligungsformen in vielen Fällen zur Farce.   Im   Ergebnis   bleibt   „der   Bezirk“   nicht   nur   auf   möglichen   negativen   fiskalischen   und   dann   auch   infrastrukturellen Folgen eines Bürgerentscheids allein sitzen, aus der Globalsumme müssen dann auch noch die Kosten für das Verfahren geschultert werden, die pro Entscheid schon mal eine Viertelmillion Euro ausmachen können.

Die Verwaltung agiert in diesem Interessengefüge nicht automatisch neutral, im Gegenteil. Politische Weichenstellungen binden Personal, erzwingen Folgeentscheidungen und Probleme, bringen den Haushalt durcheinander und so weiter. Die Verwaltungen haben oftmals genug damit zu tun, die in ihrem internen Fokus existierenden Probleme und Konflikte zu verarbeiten. Im Kern sind Verwaltungen den ganzen Tag mit nichts anderem beschäftigt, als Interessenkonflikte mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu bearbeiten. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen und existierenden Zwänge beeinflussen auch den Modus der Konfliktbearbeitung und -entscheidung. Im Zweifel wird den in der Verwaltung unter Berücksichtigung der apparateinternen Interessen und Zwänge erarbeiteten politischen Lösungen und Entscheidungen der Vorzug gegeben. Schon deshalb sehen und produzieren sich Verwaltung und  Politik  in  direktdemokratischen  Verfahren  gern  in  der  Rolle  der  „Ver

teidigerin   der   Vernunft“,   des   „allgemeinen   Wohls“   gegenüber   den   vermeintlich   unkundigen   und   überzogenen Ansprüchen aus der Bevölkerung. Aus dieser Sichtweise speist sich die immer wieder formulierte Ansicht, Repräsentationsund Demokratiedefizite gäbe es überhaupt nicht, Verwaltungsspitzen  und  Politik  müssten  ihre  Entscheidungen  nur  „besser  erklären,  richtig  vermitteln“.

Fiskalische Zwänge, leere Kassen sind wohl – neben rechtlich abgesicherten Interessen privater Beteiligter (Investoren, Grundstückseigentümer, Projektentwickler u. ä.) – der gewichtigste Aspekt, der sich hier niederschlägt. Die Verwaltungen müssen für wirkliche Beteiligungsprozesse auch personell und sachlich ausgestattet sein. Demokratische Beteiligung kostet Zeit, braucht Lernerfahrung, erfordert Ressourcen. Beispiele wie Bürgerhaushaltsprojekte oder Beteiligungsfonds haben das gezeigt. Daraus folgt im Umkehrschluss: Wer eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung zusichert, kommt um die  Konsequenz  nicht  herum,  dass  dazu  auch  zusätzliche  Ressourcen  eingesetzt  werden  müssen.  „Billige“  Bürgerbeteiligung  läuft  letztlich  auf  „Demokratie-Imitate“  hinaus,  auf  Scheinbeteiligungsverfahren,  wie  etwa  die  jüngste  „Internetbefragung“ des Senats über eine mögliche Olympiabeteiligung.

4. Frühzeitige Bürgerbeteiligung zahlt sich aus

Bei all diesen Anforderungen stellt sich die Frage: Warum sollten Regierungen und Verwaltungen das alles tun? Die Antwort ist einfach: Weil es sich langfristig lohnt und die Fortsetzung der geübten Praxis auf Dauer immer teurer wird.

Je langfristiger, umfangreicher und damit zumeist auch kostenintensiver ein Projekt angelegt ist, desto größer wird das Bedürfnis nach Planungssicherheit. Alles, was riesige Investitionen erfordert, also große technische Entwicklungen, Stromnetze, Verkehrsinfrastrukturen, aber auch weitreichende Reformen im sozialen Bereich, braucht Planungen und somit Investitionen, manchmal auf Jahrzehnte im Voraus. Sollen diese Investitionen nicht in den Sand gesetzt werden, brauchen wir andauernde gesellschaftliche Akzeptanz für diese Vorhaben. Beispiele der jüngeren Vergangenheit, wie die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21, den BER, den Bau großer Stromtrassen, machen doch eins deutlich: Parlamente, Parteien, Consultants und Lobbyorganisationen kriegen das nicht hin.

Daher zahlen sich direkte Demokratie und eine ernsthafte frühzeitige Beteiligung auch fiskalisch betrachtet fast immer aus, wenn sie als kontinuierlicher Prozess organisiert werden. Auf der anderen Seite zeigen alle bisherigen Erfahrungen – entgegen landläufigen Behauptungen, direkte Demokratie befördere verantwortungsloses Geldverteilen –, dass auch ein Mehr an Volksinitiative keinesfalls eine Explosion der Ausgaben öffentlicher Haushalte zur Folge hat. Die Bevölkerung scheint über eine gute Sensibilität für den sinnvollen Einsatz der von ihr aufgebrachten Steuermittel zu verfügen. Unsinnige Vorhaben können beizeiten gestoppt, kluge Investitionen vorangebracht werden. Milliarden in Milliardengräber – das waren in der zurückliegenden Zeit nicht die Kosten einer Politik, die von der Bevölkerung ausging, sondern von unterlassenen Zukunftsoder von Fehlinvestitionen, von gescheiterten Großvorhaben einer größenwahnsinnigen politischen Klasse. Direkte Demokratie und partizipatorische Bürgerbeteiligung stabilisieren die Demokratie und das politische Gemeinwesen.

III.  Grundsatzfrage:  Volksbefragung  oder  Referendum  „von  unten“? 1.  Direkte  Demokratie  als  latente  „Veto-Option“:  das  fakultative Volksreferendum

1.  Direkte  Demokratie  als  latente  „Veto-Option“:  das  fakultative Volksreferendum

Es   gibt   keinen   vorgefertigten   „Besteckkasten“   für   Bürgerbeteiligungsverfahren mit passgerechten Instrumenten für jeden erdenklichen Fall. Über eine Olympiabewerbung muss anders verhandelt werden als über die Gestaltung des Tempelhofer Feldes, den Bau eines Autobahnabschnitts oder über die Errichtung eines Stadtwerks. Wirklich geeignete Instrumente zur demokratischen Planung und Beteiligung der Bevölkerung lassen sich nur spezifisch und für konkrete Vorhaben entwickeln. Daran haben die verantwortlichen politischen Spitzen und die Verwaltungen, wie beschrieben, nicht aus sich selbst heraus ein politisches Interesse.

Oft geht es daher bestenfalls um die Einbindung der Bevölkerung – mit dem Ziel, politischen Vorhaben der politischen Klasse, städtischer Interessenkoalitionen oder der Verwaltung eine größere symbolische Legitimation zu verschaffen. Das ist aber genau das Gegenteil von Beteiligung: Es ist eine machtpolitische  Strategie,  Dissens  und  Widerspruch  „auszukontern“,  ihnen  die  Legitimation zu entziehen, sie in den Rang eines irrelevanten, minoritären Partikularinteresses abzuschieben. Bei dieser Strategie geht es nicht so sehr um Einbeziehung, sondern um die stadtpolitische Mobilmachung der Bevölkerung – das Generieren von Zustimmung zur Konzentration von Ressourcen und Energie auf Leuchtturmprojekte und Metropolenmarketing „von  oben“.

Eine ernstgemeinte demokratische Beteiligung würde es zuerst erfordern, offensiv über Vorhaben und Planungshorizonte, über Konzepte und Kosten, Schrittfolge der Projektverwirklichung zu informieren.   Dabei   ist   besonderes   Augenmerk   darauf   zu   legen,   nicht   nur   den   „einmischungsaffinen“   Teil   der Bevölkerung zu erreichen. Zweitens muss die Planung offen für Alternativen und – entsprechend des Verwirklichungsstandes – auf die Möglichkeit der Korrektur durch Intervention der Bevölkerung angelegt sein. Auch hier gilt wieder: möglichst breite Beteiligung unter gezielter Einbeziehung weniger artikulationsmächtiger Teile der Stadtbevölkerung. Das ist Planung und Entscheidung von Projekten „von  unten“,  gewissermaßen  die  Demokratisierung  der  Planung  und  Entscheidung  über  größere   stadtpolitische Vorhaben.

Wir sind der Ansicht, dass die Einführung einer fakultativen Referendumsmöglichkeit auf Bevölkerungsinitiative das geeignete Druckmittel ist, um politisch Verantwortliche und Verwaltungen zur Etablierung einer auf breite Beteiligung und Einmischung angelegten demokratischen Planungsund Entscheidungspraxis zu zwingen. Bei einem „basisinitiierten“   Referendum können Parlamentsentscheidungen innerhalb einer festzulegenden Frist, bspw. von 3 Monaten, durch Sammlung einer festgelegten Zahl von Unterschriften, auf Landesebene z.B. 50.000, einem Volksentscheid unterworfen werden.

Es geht also um die Aufrechterhaltung oder Aufhebung einer politischen Entscheidung der Vertretungskörperschaft. Aber: Weder die Verwaltung noch das Parlament werden dabei aus ihrer politischen Verantwortung entlassen. Regierung, Fraktionen und Parlamentsmitglieder beziehen weiterhin Position und müssen sich auch entscheiden. Das geschieht dann allerdings in dem Wissen darum, dass das Ergebnis ihrer politischen Entscheidungen in jedem Schritt unter dem Vorbehalt nachträglicher Korrektur steht. Damit wächst der Druck, Planung und Entscheidung über Vorhaben und Großprojekte so zu gestalten, dass ihr Ergebnis tragfähig ist, akzeptiert wird und deshalb Bestand hat.

Das Parlament wird dadurch gestärkt, wenn es im Interesse verantwortlicher Regierungskontrolle von Anfang an offen und regelmäßig über alle wichtigen und möglicherweise kontroversen Vorhaben debattiert und jeweils auch Weichenstellungen durch Beschlüsse vornimmt. Denn je später Konzepte und Fakten auf dem Tisch liegen, je weiter ein Projekt gediehen ist, desto größer der politische und finanzielle Schaden, wenn die Bevölkerung die Regierenden und die Verwaltung „zurückpfeift“.  

Eine solche Praxis trägt auch zur Versachlichung stadtpolitischer Kontroversen bei. Sachbezogene Einwände, auch oppositionelle, gewinnen parlamentarisch ein größeres Gewicht, wenn sie die wichtigen Interessen in der Stadtgesellschaft  artikulieren.  Die  „festen“  Mehrheiten  einer  Koalition  können   sich ihrer nicht mehr in jedem Fall sicher sein, sondern nur dann, wenn ihre Entscheidungen in der öffentlichen Auseinandersetzung bestehen. Das zwingt sie auch zu einem anderen Umgang mit der Parlamentsminderheit. Und dennoch wird die ganz große Zahl von Entscheidungen nach wie vor im Parlament getroffen werden.

Ergänzt  werden  kann  die  fakultative  Referendumsoption  „von  unten“  durch  automatische,  „obligatorische“ Abstimmungen zu einzelnen verfassungsrechtlich definierten Fragen. Die Linksfraktion im Abgeordnetenhaus  beispielsweise  hat  eine  „Privatisierungsbremse“,  also  eine  verbindliche  nachträgliche Abstimmung über Parlamentsentscheidungen zur Veräußerung von Berliner Landesunternehmen, vorgeschlagen. Und in der Schweiz ist die Bevölkerung regelmäßig zu Abstimmungen über öffentliche Investitionen, Ausgaben oder Kreditaufnahmen ab einer fest definierten Höhe aufgefordert (Finanzreferendum). Wir denken, dass auch solche Instrumente sinnvoll sind und die Demokratie insgesamt stärken. Deshalb sollte die Debatte dazu unvoreingenommen geführt werden.

2.  Volksbefragungen  „von  oben“  sind  für  Bürgerbeteiligung  kontraproduktiv  

Die Berliner SPD hat im Zusammenhang mit einer möglichen Olympiabewerbung Berlins Volksbefragungen als Parlaments- oder Regierungsreferenden vorgeschlagen. Mit dem Parlamentsbzw. Regierungsreferendum wird dem Abgeordnetenhaus oder dem Senat die Möglichkeit verschafft, über Sachthemen die Wahlberechtigten der Stadt abstimmen zu lassen. Im Fall der Olympia-Entscheidung bedeutet das dann: Ein die Bewerbung Berlins befürwortender Senatsbeschluss oder ein befürwortender Beschluss des Abgeordnetenhauses würde auf Parlamentsoder Senatsinitiative hin zu einem „von  oben“  festgelegten  Zeitpunkt  den  Wahlberechtigten zur Ratifizierung vorgelegt.

Verfassungsrechtlich zulässig sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Berlin ohnehin nur unverbindliche Befragungen. Das ist vollständig abzulehnen. Solche Befragungen sind eine Farce, insbesondere dann, wenn – wie im Fall der Internetbefragung des Senats zur Olympiabewerbung – die Rahmendaten, Konzeptionen, Folgeabschätzungen noch überhaupt nicht auf dem Tisch liegen und die Ablehnung des Vorhabens im Korsett der vorgegebenen Fragen nicht einmal artikuliert werden kann.

Verbindliche Volksbefragungen greifen dagegen in das verfassungsrechtlich verankerte Kompetenzgefüge der parlamentarischen Demokratie ein. Sie bedürften deshalb einer Änderung der Verfassung von Berlin. Aber wir sehen auch eine solche Änderung mit dem Ziel, parlamentsoder senatsinitiierte verbindliche Befragungen zu ermöglichen, äußerst skeptisch:

Beim fakultativen Volksreferendum geht die Initiative zur Korrektur einer Entscheidung immer von der Stadtgesellschaft aus. Sie bestimmt, ob und wann es zu einer Abstimmung kommen soll. Während durch diese Souveränität der Bevölkerung der sachliche Legitimationsdruck auf die institutionelle   Politik   steigt,   ist   es   bei   einem   Referendum   „von   oben“   genau   umgekehrt:   Die   Bevölkerung   wird   zum Spielball der Politik. Die Versuchung ist einerseits groß für die Regierenden, sich mit zustimmungssicheren   Themen   zu   profilieren,   was   einer   „Festivalisierung“   der   Stadtpolitik   Vorschub   leistet.   Auf der anderen  Seite  sollten  auch  kontroverse  Themen  nicht  einfach  „nach  unten  weitergereicht“   werden, weil sich die Verantwortlichen aus der Verantwortung stehlen wollen.

Es liegt auf der Hand, dass die Regierenden ein Referendum genau zu einem solchen Zeitpunkt ansetzen werden, an dem sie sich der Unterstützung der Abstimmungsberechtigten sicher scheinen oder wenn  sie  es  für  geraten  halten,  die  Verantwortung  für  eine  politische  Sachentscheidung  „weg  zu  delegieren“.  Das  trägt  aber  nicht  zu  größerer  Bürgerbeteiligung,  zu mehr Demokratie und zur Versachlichung der politischen Kontroversen bei,  sondern  verführt  zum  manipulativen  Spiel  mit  „Stimmungen“  und  Illusionen  – und zur Erosion der politischen Verantwortung von Regierung und Parlament. Entbrennt dann zu einem späteren Zeitpunkt die Kontroverse, etwa weil die Planungen erst dann ausreichend konkret sind, um auch die negativen Konsequenzen und die konkret beeinträchtigten Interessen zu offenbaren, wird der Kritik aus der Stadtgesellschaft von den Regierenden das Ergebnis der Volksabstimmung entgegengehalten. Die Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen diffundiert ins Unsichtbare und demokratisches Engagement wird demobilisiert, weil es instrumentalisiert wird. Direkte Demokratie läuft auf einem solchen Weg Gefahr, zur Akklamationsmaschine der regierenden Politik zu verkommen.

Die Einführung eines Regierungsreferendums führt mit Sicherheit auch zu einer deutlichen Schwächung der Rolle des Parlaments, während die Machtoptionen der Regierung wachsen. Es würde dem Senat ein  Instrument  zur  Legitimation  „am  Parlament  vorbei“  verschaffen,  wenn  ihm  die  Mehrheiten   dort   selbst   nicht   sicher   scheinen.   Das   Parlament   kann   dann   vorzüglich   „mit   der   öffentlichen   Meinung“  unter  Druck  gesetzt  werden.  Insbesondere  bei  knappen  Mehrheiten  lädt ein solches Instrument geradezu zum Missbrauch ein. Deshalb ist es inakzeptabel.

Aus unserer Sicht sind ausschließlich Parlamentsreferenden diskutierbar. Um deren Missbrauch vorzubeugen, gilt das allerdings nur, wenn die parlamentarischen Hürden für die Initiierung ausgesprochen hoch sind. Das ist zum Beispiel in Berlin auf Bezirksebene der Fall, wo gemäß § 46 Abs. 4 des Bezirksverwaltungsgesetzes die Bezirksverordnetenversammlung mit einer Zweidrittelmehrheit einen Bürgerentscheid zu einer Sachfrage einleiten kann. Das  fakultative  Referendum  „von  oben“,  also die klassische Volksbefragung, muss die absolute Ausnahme bleiben – und es muss zwingend mit Minderheitenrechten des Parlaments und aus der Stadtgesellschaft verbunden werden, der Bevölkerung Alternativvorschläge zur Abstimmung zu unterbreiten.

Das Parlamentsreferendum ist immer die zweite Wahl. Mit der Einführung des fakultativen Referendums bräuchten wir regelmäßig kein Parlamentsreferendum. Ausnahmen sind da allenfalls für solche Grundsatzentscheidungen wie eine Länderfusion denkbar. Denn wenn es in der Stadtgesellschaft dafür ein ausreichend starkes Bedürfnis gibt, kann die Bevölkerung in jeder parlamentarisch verhandelten Sachfrage im Grunde jederzeit zum Zuge kommen. Der verfassungsrechtlich verpflichtende Volksentscheid gemäß Art. 100 über jede Änderung der Regeln zur direkten Demokratie auf Landesebene in Art. 62, 63 Verfassung von Berlin steht dagegen seinem Sinn und Zweck nach schon nicht zur Disposition einer Parlamentsmehrheit, da hier die grundsätzliche Machtverteilung zwischen Parlament und Volksgesetzgeber festgelegt wird. Dabei sollte es auch bleiben.

IV. Vorschläge für mehr direkte Demokratie

Die Linksfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin will eine Stärkung der direkten Demokratie erreichen und tritt deshalb für folgende Veränderungen der verfassungsund einfachgesetzlichen Rahmenbedingungen für verbindliche Instrumente der Bürgerbeteiligung ein.

1. Einführung eines fakultativen Volksreferendums, Parlamentsreferendum als Ausnahme

Wir schlagen vor, dass politische Sachentscheidungen des Abgeordnetenhauses durch ein fakultatives Referendum „von  unten“  einem nachträglichen Volksentscheid mit verkürzten Fristen und geringeren Hürden unterworfen werden können. Die Verkürzung der Frist und die Verringerung der Hürden begründet sich daraus, dass hier erstens auf eine Entscheidung reagiert wird, zu der bereits eine öffentliche Debatte möglich war, und dass zweitens der durch die Einleitung des Referendumsprozesses  bewirkte  „Schwebezustand“  der Parlamentsentscheidung kurz sein sollte.

Denkbar ist, dass innerhalb von zwei Wochen mit Unterstützung einer gewissen Zahl von Abstimmungsberechtigten die Einleitung eines Referendums angezeigt (und damit im Fall von Gesetzen beispielsweise die Verkündung im Gesetzblatt ausgesetzt) wird. Innerhalb einer Frist von drei Monaten müssen anschließend mindestens 50.000 Unterschriften beigebracht werden, um eine Abstimmung der Bevölkerung über die Parlamentsentscheidung zu bewirken. Taugliche Gegenstände eines solchen Referendums können alle auch jetzt bereits der Entscheidung mittels direkter Demokratie zugänglichen Fragen sein. Das bedeutet auch, dass beispielsweise das Landeshaushaltsgesetz nicht mit dem fakultativen Referendum in Frage gestellt werden kann.

Unter der Bedingung einer solchen Stärkung der Initiativen von unten ist für uns auch denkbar, dass das Parlament – keinesfalls der Senat – mit einer qualifizierten Mehrheit eine Sachfrage den Berliner*innen zur Abstimmung und Entscheidung vorlegt. Damit das die Ausnahme bleibt, sich die Parlamentsmehrheit nicht ihrer politischen Verantwortung entledigen oder Oppositionspositionen (inneroder  außerhalb  des  Parlaments)  durch  „Legitimationsabstimmungen“  aushebeln kann, sollte das auf diejenigen Fälle beschränkt sein, in denen das Parlament mit großer Mehrheit (mindestens drei Viertel der verfassungsmäßigen Mitglieder) eine solche Abstimmung durch die Bevölkerung wünscht. Um zu gewährleisten, dass hier zwischen verschiedenen Positionen tatsächlich entschieden werden kann, wäre  ein  zweistufiges  Verfahren  denkbar:  Über  das  „Ob“  der  Volksbefragung  entscheidet  eine   qualifizierte  Mehrheit  des  Parlaments.  Über  die  Abstimmungsfrage  selbst,  das  „Wie“,  kann  dann  eine   einfache Parlamentsmehrheit entscheiden, wobei eine qualifizierte Minderheit das Recht haben muss, einen alternativen Abstimmungsvorschlag zu unterbreiten. Ergänzt werden könnte das durch das Recht stadtpolitischer Initiativen, in einem verkürzten Verfahren mit herabgesetzter Hürde ebenfalls einen Vorschlag zur Abstimmung zu bringen.

2. Einführung einer  „Privatisierungsbremse“

Wir erneuern unser Angebot zur Debatte über ein obligatorisches Referendum bei Entscheidungen über die Privatisierung von Unternehmen, Betrieben und Infrastrukturen der öffentlichen Daseinsvorsorge. Ziel ist es, Verkaufsentscheidungen des Parlaments in festgelegtem Umfang nachträglich einem Volksentscheid zu unterwerfen. Einen entsprechenden Antrag hat die Linksfraktion in das Abgeordnetenhaus von Berlin eingebracht. Unsere Offenheit zur Diskussion über die Gestaltung dieser Vorschrift besteht nach wie vor.

3. Absenkung der Hürden für Volksbegehren und Volksentscheide

Wir sprechen uns für eine Herabsetzung der bestehenden Hürden bzw. Quoren aus. In der ersten Stufe des   „einfachen“   Volksbegehrens   erscheint die Beibehaltung der Relevanzhürde von 20.000 Unterschriften sinnvoll. Für die 2. Stufe dagegen ist eine moderate Absenkung der Hürde auf 5 Prozent der zum Abgeordnetenhaus von Berlin Wahlberechtigten (bislang 7 Prozent) vorzunehmen. Die bisherigen Erfahrungen lassen auch dann keine Inflation von Volksbegehren erwarten, zumal die Einleitung eines Volksbegehrens auch dann noch eine kostspielige und organisatorisch aufwendige Veranstaltung bleibt. Das Zustimmungsquorum beim Volksentscheid (bislang 25 Prozent der Wahlberechtigten) sollte entweder ganz abgeschafft oder deutlich, etwa auf das Niveau der Relevanzhürde der 2. Stufe, abgesenkt werden. Die stadtpolitische Relevanz eines Anliegens wird bereits auf der 2. Stufe in einem stark formalisierten Verfahren ermittelt, deshalb besteht hierfür kein weiterer Bedarf. Auch nach einer solchen Erleichterung werden direktdemokratische Interventionen weiterhin nur eine Ergänzung parlamentarischer und exekutiver Verantwortung sein.

Volksbegehren, die auf eine Änderung der Verfassung gerichtet sind, müssen deutlich erleichtert werden. Wenn in solchen Fällen auf  beiden  Stufen  im  Vergleich  zum  „einfachen“  Volksbegehren  die   doppelten Hürden gelten würden, was ausreichend scheint, bedürfte es zukünftig erstens 40.000 Unterschriften (bislang 50.000 Unterschriften Wahlberechtigter) zur Einleitung und zweitens 10 Prozent (bisher 20 Prozent) der Unterschriften aller Wahlberechtigten innerhalb von 4 Monaten. Das sind immer noch signifikant mehr, als  heute  für  ein  „einfaches“  Volksbegehren gesammelt werden müssen. Das heutzutage geltende Doppelquorum bei der Abstimmung (Zustimmung von mindestens der Hälfte aller Wahlberechtigten und gleichzeitig eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Teilnehmenden) sollte durch ein einfacheres Quorum (zwei Drittel der Teilnehmenden, ggf. noch ein ausschließlich auf Relevanzprüfung orientiertes, niedriges Zustimmungs-/Beteiligungsquorum der Wahlberechtigten) ersetzt werden. Das sollte diskutiert und mit den Erfahrungen in anderen Ländern und Bundesländern abgeglichen werden. Klar ist aber, dass die bisherige Verfassungslage aufgrund ihrer unmöglich zu bewältigenden Hürden bestenfalls als Volksentscheids-Verhinderungsvorschrift beschrieben werden kann.

In beiden Fällen schlagen wir vor, bei der Zählung der Unterschriften der 1. Stufe alle Einwohner*innen Berlins (jetzt schon bei der Einwohnerinitiative, vgl. Art. 61 Abs. 1 S. 2 Verfassung von Berlin) zu beteiligen, also auf den Nachweis des deutschen Passes zu verzichten. Da sowohl in der zweiten Stufe als auch bei einem Volksentscheid nur die Unterschriften bzw. Voten der Wahlberechtigten maßgebend sind, wäre die staatsrechtliche Qualität des Volksbegehrens bzw. verbindlichen Volksentscheids nach derzeitiger Grundgesetzlage auch bei einer solchen Erleichterung auf der 1. Stufe aus unserer Sicht kaum zweifelhaft (vgl. unten, 6.).

4. Terminierung von Volksentscheiden

Der Spielraum des Senats zur Festsetzung des Termins eines Volksentscheids in der zeitlichen Nähe zu Wahlterminen muss abgeschafft werden. Die gegenwärtige Praxis birgt permanenten Konfliktstoff. Der Senat sah sich inzwischen mehrfach dem Vorwurf ausgesetzt, durch abweichende Terminfestlegung die Beteiligungsquoten der Bevölkerung bewusst „gedrückt  zu  haben“.  Ein  Ermessen  des   Senats ist hier aber auch sachlich nicht begründbar. Deshalb sollten prinzipiell die Vorstellungen der Initiator*innen maßgeblich sein, wenn es um die Möglichkeit der Zusammenfassung von Wahlen und Abstimmungen durch zeitliche Nähe besteht. Sie sollten die Wahloption erhalten.

Wir schlagen vor, den Zeitraum zu verlängern, in dem auf Begehren der Trägerin eines Volksbegehrens eine Zusammenlegung von Wahl und Abstimmung auch dann erfolgt, wenn die nächsten allgemeinen Wahlen noch weiter entfernt liegen. Denn soweit das Anliegen des Volksbegehrens nicht beeinträchtigt wird, worauf die Trägerin des Anliegens achten wird, ist das auch innerhalb von 12 Monaten (bislang maximal 8 Monate) eine sinnvolle Option.

5. Stärkung der Rechte der Initiator*innen, des Parlaments und der staatlichen Zurückhaltung bei Volksbegehren und Volksentscheiden

Die Initiator*innen eines Volksbegehrens sollten zukünftig bereits nach Erreichen der 1. Stufe das Recht auf eine Anhörung im zuständigen Parlamentsausschuss haben. Damit wäre nicht nur die Kenntnisnahme und Befassung des Parlaments zu einem sehr frühen Zeitpunkt gewährleistet. Es könnte dann auch die Einwohnerinitiative (Art. 61 Verfassung von Berlin) entfallen, sofern zur Gültigkeit von Unterschriften auf der 1. Stufe zukünftig nicht mehr die Wahlberechtigung, sondern die Einwohnerschaft von Berlin maßgeblich wird. Denn die Einwohnerinitiative ist auf das Ziel der Parlamentsbefassung gerichtet und hat die gleiche Hürde, ist aber bisher in der Regel die direktdemokratische Sackgasse: Nach der Befassung durch das Parlament folgt, selbst bei einer Zurückweisung, nichts mehr. Andererseits würde damit die erste Stufe des Volksbegehrens aufgewertet und bezöge zumindest in diesem sehr frühen Stadium der Willensbildung auch Berlinerinnen und Berliner ohne deutschen Pass zukünftig mit ein.

Wir schlagen außerdem eine moderate Kostenerstattung für die Initiator*innen eines erfolgreichen Volksbegehrens auf der 2. Stufe vor. Die Spendentransparenz ist bereits durch Gesetz hergestellt, um die Offenlegung finanzieller Förderung und Einflussnahme durch private Interessenten auf Volksbegehren und -entscheide  zu  sichern.  Volksbegehren  und  Volksentscheide  sind  aber  keine  „Privatinitiativen“,   sondern   sie   liegen   im   allgemeinen   demokratischen   Interesse.   Deshalb   sollen   den Initiator*innen keine übermäßigen finanziellen Nachteile entstehen, wenn sie ein aufwändiges, erfolgreiches Volksbegehren auf den Weg gebracht haben.

Zukünftig will die Linksfraktion absichern, dass in der an die Abstimmungsberechtigten zu versendenden amtlichen Mitteilung über den Volksentscheid auch die Parlamentsminderheit die Gelegenheit zur Stellungnahme erhält. Bislang haben die Trägerin, der Senat und das Abgeordnetenhaus diese Möglichkeit. In der Praxis führt das dazu, dass immer zwei im Ergebnis ablehnende Stellungnahmen der Erläuterung des Anliegens durch die Initiative gegenüberstehen. Es erscheint uns kein Fall denkbar, in dem der Senat und die ihn tragende Parlamentsmehrheit abweichende Abstimmungsempfehlungen aussprechen. Der Ausweg besteht in der Einräumung anteiligen Raums für Stellungnahmen für die Fraktionen nach ihrem Stärkeverhältnis oder in der Möglichkeit einer qualifizierten Parlamentsminderheit (z.B. über 25 Prozent der Abgeordneten), neben der Parlamentsmehrheit eine eigene Stellungnahme abzugeben. Zumindest gibt das amtliche Informationsheft nach heutiger Rechtslage die Meinungsvielfalt des demokratischen Prozesses im Parlament nicht einmal ansatzweise wieder. Ein solches Minderheitenrecht stärkt dagegen die Rolle des Parlaments im direktdemokratischen Verfahren.

Die Linksfraktion will rechtlich verbindlich regeln, dass nicht nur die unmittelbare Landesverwaltung Berlins, also der Senat und die Behörden, sondern auch die mittelbare Landesverwaltung (rechtlich selbständige öffentliche Einrichtungen und vom Land beherrschte Unternehmen) zur Werbung gegen ein bestimmtes Volksbegehren oder für ein bestimmtes Abstimmungsverhalten beim Volksentscheid keine eigenen personellen oder sachlichen Ressourcen einsetzen darf. Eine solche Restriktion betrifft nicht die politische Positionierung oder die Meinungskundgabe von Vertreter*innen aus Politik und mittelbarer Landesverwaltung. Sie dient der Aufrechterhaltung von Waffengleichheit in der Willensbildung, zumal öffentliche Unternehmen und Einrichtungen des Landes Berlin nicht ohne weiteres als Landesinstitutionen und der Regierung verantwortliche Akteure auftreten bzw. wahrgenommen werden. Auch diese Akteure finanzieren sich aus Aufwendungen, die alle Berliner*innen zur Erfüllung einer spezifischen öffentlichen Aufgabe aufbringen. Diese finanziellen Mittel dürfen nicht für Kampagnen, für ein parteiisches Eingreifen in stadtpolitische Auseinandersetzungen zweckentfremdet werden. Es muss außerdem durch Bestimmungen in Subventionsbescheiden oder durch Regelungen in Förderverträgen ausgeschlossen werden, dass öffentliche Fördermittel durch Fördermittelempfänger direkt für die Meinungsbildung bei Volksbegehren und Volksentscheiden eingesetzt werden.

6. Demokratie für alle: Wahlund Abstimmungsrechte für Nichtdeutsche

Die Teilnahme von Berlinerinnen und Berlinern ohne deutschen Pass an Wahlen und Abstimmungen scheitert gegenwärtig an der Verfassungsrechtslage auf Bundesebene. Nur eine Grundgesetzänderung kann den Weg für das Wahlund Abstimmungsrecht für alle Menschen freimachen, die dauerhaft in Berlin leben. Die Beteiligung an allen verbindlichen staatlichen Entscheidungen ist damit ausschließlich den wahlberechtigten Deutschen vorbehalten.

Das ist angesichts der großen Zahl der in Berlin lebenden Migrant*innen eine politische Ausgrenzung eines ganz erheblichen Teils der Berliner Bevölkerung. Sie sind von all diesen Entscheidungen aber gleichermaßen betroffen. Das muss sich mittelfristig ändern. Deshalb schlägt die Linksfraktion vor, dass das Land Berlin sich laut, vernehmbar und in allen geeigneten Formen (beispielsweise über den Bundesrat) für eine Grundgesetzänderung stark macht, die auch nichtdeutschen Menschen die demokratische Partizipation in unserem Gemeinwesen eröffnet.

7. Stärkung der bezirklichen direktdemokratischen Instrumente, Kostenübernahme

Auch die direktdemokratischen Instrumente auf der bezirklichen Ebene sollen gestärkt, ihre Nutzung erleichtert werden. Wir schlagen auch hier eine Absenkung der Hürden und Quoren für Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf das mit der Landesebene vergleichbare Niveau vor (vgl. oben unter 3.). Auch die anderen Veränderungsvorschläge gelten, soweit die Analogie möglich ist, auch für Verbesserung der direktdemokratischen Instrumente auf der bezirklichen Ebene.

Die den Bezirken entstehenden Kosten für die Durchführung von Bürgerentscheiden sollten, soweit es sich nicht um von der Bezirksverordnetenversammlung initiierte Bürgerentscheide handelt, mit der Basiskorrektur erstattet werden. Der Grund dafür: Es handelt sich um nicht vom Bezirk steuerbare Kosten. Eine hohe direktdemokratische Beteiligung soll den in Bezug auf die Einnahmen nur sehr begrenzt flexiblen Bezirken mit ohnehin knappen Ressourcen nicht als Strafe erscheinen, sondern als Errungenschaft. Es ist ein Vorzug demokratischer Kultur, wenn Bezirkspolitik und Verwaltung Dialog, Kontroverse und direkte Bürgerbeteiligung fördern können und nicht als Last empfinden müssen.