Nach Staatsschutz überprüft Staatsschutz: Polizei verdächtigt Polizei

Bericht zur Sitzung des Untersuchungsausschusses zum rechten Terror in Neukölln am 1. September 2023

Die erste Sitzung nach dem Ende der parlamentarischen Sommerpause sollte sich durch die stattfindenden Einlassungen auch den Letzten aus den letzten aus den Ferien holen. Der Untersuchungsausschuss hatte mit seiner Koalitionsmehrheit beschlossen, dass bei den Behördenzeug:innen mit der Spitze und der Gegenwart begonnen wird, anstatt mit der Vergangenheit und den nachfolgenden Kräften zu beginnen. Dies hätte den Vorteil gehabt, in einem späteren Verlauf die vorgesetzten Stellen mit möglichen kritischen Fragen begegnen zu können.

LKA-Chef Steiof hatte als erster Zeuge des Tages bereits in der Vergangenheit mehrmals im Innen- wie im Rechtsausschuss zu den aktuellen Entwicklungen zur rechten Anschlagsserie berichtet, wenn die damalige rot-rot-grüne Koalition das Thema auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Der ehemalige Staatsschützer stellte routiniert dar, welche Veränderungen in Bezug auf die Bekämpfung der extremen Rechten im LKA vorgenommen wurden. Dass im Rückblick alle Veränderungen nicht nur positive Folgen hatten, musste auch Steiof zugestehen: Als Konsequenz des seitens der Sicherheitsbehörden unentdeckten Mordens des NSU wurden 50 Prozent der Personalstärke mit sachfremden Kräften ausgetauscht, um den Blick auf die extremen Rechte ggf. zu erweitern. Steiof räumte ein, dass dadurch viel Kopfwissen auch durch mangelnden Wissenstransfer verloren ging.

Bekannte extrem rechte Akteur:innen und Netzwerke fielen aus dem Blick

Nachdem die „Einsatzgruppe Rechtsextremismus“ (EG Rex) als lokale Ansprech- und Kontakteinheit vor Ort in den letzten Monaten von Rot-Schwarz vom christdemokratischen Innensenator Frank Henkel 2016 aufgelöst wurde, führte man im Januar 2017 die „Ermittlungsgruppe Rechte Straftaten in Neukölln“ (EG RESIN) ein. Nach Aussage von Steiof, weil man den Seriencharakter der vermehrt in Neukölln auftretenden rechten Straftaten erkannt hatte. Dezember 2016 wurde das erhöhte Deliktaufkommen bereits mit der Entlassung von Sebastian T. im April bzw. Mai desselben Jahres in Verbindung gebracht.

In der Vorstellung der Gutachten der Sachverständigen Bianca Klose von der Mobilen Beratung gegen Rechts (mbr) kam im Ausschuss immer wieder die Frage auf, ob und in welchen Umfang die Sicherheitsbehörden den Netzwerkcharakter hinter „Nationaler Widerstand Berlin“ (NW Berlin) erfasst wurde, um die Kontinuität der dahinterstehenden Protagonisten zu verstehen – und ihre Bedeutung für die aufzuklärende Anschlagsserie. Aus Personalgründen, wie Steiof ausführte, sollte sich die EG RESIN jedoch nur am aktuelle bzw. zu erwartende Delikte kümmern. Ein Blick auf die Zusammenhänge mit Bezug auf NW Berlin soll daher nicht möglich gewesen sein. Ein Umstand, der sich bisher durch die Befragung der Behördenzeug:innen zog: Andreas Majewski als Leiter der Nachfolgeorganisation der EG RESIN, der „Besondere Aufbauorganisation Fokus“ (BAO Fokus), hatte keine Kenntnis über den NW Berlin und musste zu seiner Zeit erst durch eine Abgeordnete der LINKEN darauf hingewiesen werden. Die gleiche BAO Fokus hatte ebenso den Beginn ihres Untersuchungszeitraums mit 2016 lange auf die Zeit nach dem Ende des Labels NW Berlins gesetzt und dies mit Personalmangel und externen Druck Ergebnisse zu präsentieren begründet.

Die fehlende Bezugnahme auf NW Berlin wird die aktuellen Ermittlungen erschwert haben. Doch den Beweis, dass diese Bezugnahme aus Personalgründen ausblieb und nicht viel mehr aus mangelnder tieferer Kenntnis der Berliner extremen Rechten oder falscher interner Entscheidungen innerhalb der Behörden, konnte von Steiof nicht erbracht werden.

Brandanschlag auf Ferat Koçak: „…dann spielt auch das Thema Pech eine ganz große Rolle“

Öffentlichkeit bekannt war, dass lange Zeit wichtige Informationen nicht zusammengeführt werden konnten, weil dazu die ausgebildeten Kräfte fehlten, die diese Informationen in eine Auswertesoftware übertragen. Ebenso wurde vom Berliner LKA-Chef kritisiert, dass durch die Schrecken des Nationalsozialismus begründete Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten die Informationslage nicht klar genug gewesen sei. Doch gab Steiof zu Protokoll, dass es nicht am Ressourceneinsatz gemangelt habe, sondern die Faktoren Pech und Zeit ausschlaggebend seien: Ferat Koçak wurde als möglicher potenzieller Betroffener identifiziert. Letzte Gewissheit sollte der Verfassungsschutz bringen. Seine Antwort kam ein Tag nach den Brandanschlägen auf Koçak und Heinz Ostermann. Dass es sich hier weniger um „Pech“ als um strukturelle Missstände in den Behörden handelte, beweist ein früheres Behördenzeugnis des Verfassungsschutzes, in dem ein Hinweis auf einen möglichen Anschlag mit der Maßgabe verbunden war, dies nicht für Maßnahmen der Gefahrenabwehr zu verwenden.

„Ich hatte die Befürchtung, dass meine Einsätze durchgesteckt werden“

Ohne Rechtsbeistand stellte sich Michael E. als ehemaliger Leiter der EG RESIN den Fragen des Ausschusses. Er führte zu sich selbst aus, dass er über 27 Jahre Berufserfahrung im Bereich der extremen Rechte verfüge, doch im Januar 2019 ausscheiden und innerhalb des LKA versetzt wurde, als sein Name auf einer Feindesliste bei einem der Hauptverdächtigen gefunden wurde. Dennoch war ihm mit Übernahme der EG RESIN und dem damit verbundenen Aktenstudium ziemlich schnell klar gewesen, dass es sich bei den Urhebern der rechten Anschlagsserie um die Verdächtigen Sebastian T., Tilo P. und Julian B. handelt.

Die Einsätze zur Überführung der Verdächtigen verliefen jedoch immer ins Leere. In zwei Jahren Ermittlungsarbeit habe E. den Verdächtigen Sebastian T. nur zwei Mal gesehen. Nie konnte T. dabei beobachtet werden, wie er Straftaten begangen habe, obwohl es zeitlich außerhalb dieser Einsätze zu Delikten gekommen sei, die er T. zurechne.

Der Leiter der EG RESIN kam zu dem Schluss, dass seine Einsätze an die Verdächtigen oder ihr Umfeld weitergegeben werden würden. Er verdächtigte nicht nur einen Wachleiter eines Nachbarabschnitts, der in einer rechten Chatgruppe aktiv war und Mitglied er AfD ist. Ohne Detlef M. namentlich zu benennen, verwies E. im weiteren Verlauf auch auf verwandtschaftliche Beziehungen des Verdächtigen Julian B. in die Polizei hinein. Zwar wurden ihre Datenbankabfragen überprüft, ob sie möglicherweise (potenzielle) Betroffene abgerufen hätten – mit negativem Ausgang. Doch ob z.B. Informationen über die Einsätze mündlich weitergegeben wurden, wollte E. nicht ausschließen.

Letztendlich bezog sich E. in seinen Ausführungen im Ausschuss sichtlich auf den später umgesetzten Oberstaatsanwalt F. – Dieser Stand im Verdacht, dass er bei der Vernehmung des Verdächtigen Tilo P. diesem das Gefühl vermittelt habe, auf P.s Seite zu stehen und Wähler der AfD zu sein. Sowohl F. als auch der Staatsanwalt S., der Kenntnis von dem Vorfall erlangt hatte, doch diesen nicht meldete, wurden später umgesetzt. Die Berliner Generalstaatsanwaltschaft übernahm daraufhin die Ermittlungen. Ein von der Linksfraktion im Ausschuss zitiertes Schreiben dokumentiert, dass es bereits längere Zeit zwischen dem LKA 5 als für die extreme Rechte zuständiges Dezernat und Oberstaatsanwalt F. zu Differenzen gekommen und vor dem Gesamthintergrund eine vertrauensvolle Zusammenarbeit nicht mehr gewährleistet sei.

Der Neukölln-Komplex in der Staatsanwaltschaft

In der Deutlichkeit wollte es Steiof nicht ausführen, dem genauso wie E. der Inhalt des Schreibens genannt wurde. E. formulierte jedoch seine Erlebnisse mit F. aus: Verweigerte Ermittlungsansätze wie Überwachungsmaßnahmen der Verdächtigen, verweigerte Beschlüsse für Durchsuchungsmaßnahmen an wichtigen Objekten, die nicht die Wohnungen der Verdächtigen waren, sowie um Wochen verzögerte Durchsicht kistenweisen Beweismaterials. Doch auch persönliche Äußerungen F.s sollen E. aufhorchen gelassen haben, wenn es um die politische Zuverlässigkeit des Oberstaatsanwalts ging.

Inwieweit die Tätigkeit F.s als Oberstaatsanwalt nicht nur Auswirkungen auf die Ermittlungen zur Anschlagsserie gehabt haben könnten, sondern womöglich auch auf andere rechte Delikte, steht nicht erst durch die Aussagen E.s im Raum. Medial wurde das Handeln F.s auch im Zusammenhang mit einem antifaschistischen Fahrrad-Korso im Rahmen des Protests gegen eine Rudolf-Heß-Demo diskutiert, nach dem F. Ermittlungen wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung einleitete, als es an einem AfD-Infostand zu Rangeleien kam. Eine mit dem Vorgang vertraute Person sprach von dem alleinigen Versuch der Kriminalisierung antifaschistischen Engagements.