Quelle: rbb-online.de

30 Jahre deutsche Einheit

Demokratie und BürgerbeteiligungCarsten Schatz

Erst mit der deutschen Einheit, mit der auch die Einheit Berlins wieder kam, konnte der Entwicklungspfad der Stadt wieder aufgenommen werden, der vor 100 Jahren begann, sagt Carsten Schatz zu den Jubiläen von 30 Jahren deutscher Einheit und 100 Jahren Groß-Berlin.

64. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 1. Oktober 2020

Zur Aktuellen Stunde "30 Jahre deutsche Einheit"

Carsten Schatz (LINKE):

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine Damen und Herren! Worüber wir auch immer hier in diesem Parlament debattieren, die AfD kreist immer um sich selbst.

Wenn wir heute über 30 Jahre deutsche Einheit reden und vorhin an die Gründung Groß-Berlins vor 100 Jahren erinnert haben, will ich versuchen, beide Daten miteinander zu verknüpfen. Warum, mögen jetzt manche fragen, und ich will es gerne erklären. Vor 100 Jahren wurde Groß-Berlin als Tochter der Novemberrevolution aus der Taufe gehoben. Wir haben es gehört: Erst ein Bündnis aus Unabhängiger Sozialdemokratie, Sozialdemokratie und Liberalen ermöglichte die politische Mehrheit für eine grundlegende Veränderung der zersplitterten Gemeindelandschaft im Berliner Ballungsraum. Eine Stadt entstand, die sich Infrastruktur und adäquate öffentliche Dienstleistung auf den Aufgabenzettel schrieb. Der gemeinnützige Wohnungsbau der Zwanzigerjahre und die Gründung der BVG fallen darunter. Doch schon 13 Jahre später unterbrach die Nazidiktatur und ihre wilden Pläne für die Welthauptstadt Germania die Entwicklung Berlins. Es folgten der Zweite Weltkrieg und die Shoah, dann die Spaltung der Stadt, und erst mit der deutschen Einheit, mit der auch die Einheit Berlins wiederkam, konnte der Entwicklungspfad wieder aufgenommen werden, der vor 100 Jahren begann.

Ja, die deutsche Einheit 1990 wurde ermöglicht durch die Freiheitsbewegung der Menschen in der DDR und im Ostteil Berlins. So, wie die Revolution 1918 die Monarchie hinwegfegte, überwanden die Menschen in der DDR 1989 einen autoritären, vormundschaftlichen Staat. Beides sind Traditionen, auf die sich unsere Stadt gründet und um deren Pflege wir als demokratische Parteien – das geht genau bis zur FDP – jeden Tag ringen sollten.

Gerade heute, wenn in unserer Gesellschaft wieder Ideen von Abschottung und Ausgrenzung verbreitet werden, sollten wir als Berlinerinnen und Berliner selbstbewusst sagen: Mauern und Stacheldraht gehören nicht in unsere Welt. Sie verhindern nicht, sondern verschieben Problemlösungen nur um den Preis unendlichen menschlichen Leids. Deshalb ist es nur folgerichtig, wenn sich der rot-rot-grüne Berliner Senat gegen eine europäische Abschottungspolitik und für die Aufnahme von Geflüchteten aus den griechischen Elendslagern in der Ägäis ausspricht.

Der erste Grund, den ich für eine Verknüpfung der beiden Daten sehe, ist die Genese beider Ereignisse in erinnerungswürdigen Momenten demokratische Entwicklungen in unserem Land. Der zweite ist, dass es durch die Einheit erst wieder möglich wurde, die Entwicklung von 1920 für die gesamte Stadt aufzunehmen, die Infrastruktur weiter auf- und auszubauen und leistungsfähige öffentliche Dienstleistungen für alle Berlinerinnen und Berliner zu gewährleisten – zumindest theoretisch.

Der Euphorie der staatlichen Einheit Deutschlands und Berlins folgte bald eine Katerstimmung auch in unserer Stadt. Die hochfliegenden Pläne der Neunzigerjahre mit einer global operierenden Berliner Bankgesellschaft und einem raschen Wachstum der Stadt zerplatzen an der Realität, die durch die Deindustrialisierung und eine schrumpfende Einwohnerzahl gekennzeichnet war. Daraus folgten fehlende Einnahmen und galoppierende öffentliche Verschuldung. Für viele Ostdeutsche – auch für die Menschen aus dem Ostteil der Stadt – bettete sich das in Erfahrungen ein, die einerseits durch das kohlsche Versprechen auf schnelle, blühende Landschaften und andererseits den Verlust des Arbeitsplatzes geprägt waren, durch das Agieren einer Treuhand, die auf den Weg gebracht wurde, um das Vermögen der DDR für die Menschen dort zu sichern, es aber letztlich für einen Appel und ein Ei verscherbelt, durch Nepp von Autodealern, Versicherungsaufschwatzerei, den Verlust der Datsche.

Dazu kommt die andauernde Ungerechtigkeit bei Löhnen und Renten. Denn die Renteneinheit in Deutschland ist auch nach 30 Jahren nicht hergestellt. Das liegt vor allem an zwei offenen Fragen. Erst 2025 soll der Rentenwert angeglichen sein. Wir sind der Meinung, dass es für dieselbe Arbeit zum selben Lohn in Ost und West auch heute schon die gleiche Rente geben muss.

Zweitens setzen wir uns weiter dafür ein, dass diskriminierende Wirkungen des Rentenüberleitungsgesetzes und des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes für Rentnerinnen und Rentner aus Ostdeutschland aufgehoben werden. Es gibt eine ganze Reihe von Personen und Berufsgruppen, deren Rentenansprüche teilweise im Zuge der Einheit untergingen und die einen Ausgleich verdienen. Dazu zählen etwa in der DDR geschiedene Frauen, Mitglieder von Ballettensembles, Bergleute, Angehörige der Deutschen Reichsbahn und der Deutschen Post der DDR, Beschäftigte des Gesundheits- und Sozialwesens, aber auch Land- und Forstwirte, Handwerker sowie Angehörige des öffentlichen Dienstes, der Armee, der Polizei, des Zolls, die mit DDR-Beschäftigungszeiten nach 1990 ihre Tätigkeit fortgesetzt haben.

Die Absurdität der Situation spiegelt sich in der Tatsache, dass die SED jahrzehntelang versuchte, den Menschen in der DDR eine eigene Identität aufzuschwatzen. Die Erfahrungen nach 1990 haben wesentlich dazu beigetragen, über Ausgrenzungserfahrungen eine ostdeutsche Identität zu entwickeln. Etwa so, wie es im folgenden Witz zum Ausdruck kommt: Sagt ein Wessi zu einem Ossi „Wir sind ein Volk!“, lächelt der Ossi „Wir auch!“. – Beide Worte, Wessi und Ossi, lernte ich übrigens Anfang 1990 in meinem neuen Westberliner Freundeskreis kennen: als Bezeichnung für Menschen aus dem Osten Ossis und aus Westdeutschland Wessis.

Die ständigen Einwohner von Berlin-West, wie es damals hieß, nahmen sich selbst aus diesem Spiel heraus. Doch auch sie hat die Einheit vor Änderungen gestellt. Noch heute ist in Kommentarspalten auf der RBB-Homepage zu lesen, wie schwer es fehlen Westberlinern und Westberlinern fällt zu akzeptieren, dass der Regierende Bürgermeister natürlich Teilnehmer der Ost-MPK ist, dass auch das 1990 entstandene Berlin ein neues Bundesland der alten BRD geworden ist.

Und die Erfahrung aus dem Witz trifft auch eine Erfahrung der Entität Berlin: Als die hochverschuldete Stadt nach dem politischen Wechsel 2001/2002 auf Bundeshilfe vor dem Bundesverfassungsgericht klagte und 2006 die Mitteilung bekam: Kommt mal selber klar! –, entwickelte sich auch ein gewisser Berliner Trotz, der das wowereitsche – herzlichen Glückwunsch übrigens zum Geburtstag! – „arm, aber sexy“ aufnahm, selbstbewusst damit umging und damit eine Dynamik auslöste, die zu wirtschaftlichem Aufschwung und zu Wachstum führte – Wachstum, das wenige Jahre zuvor kaum jemand für möglich hielt. Und das haben die Berlinerinnen und Berliner selbst gemacht. Deshalb bleibt es für mich richtig, dass die 2016 entstandene Koalition aus SPD, Linken und Grünen die Berlinerinnen und Berliner an diesem Erfolg teilhaben lässt über kostenfreies Schulmittagessen, kostenfreie Tickets für Schülerinnen und Schüler und sich andererseits der Wachstumsschmerzen in einer kapitalistischen Metropole annimmt, Mieten deckelt und neuen bezahlbaren Wohnraum auch in kommunalem Eigentum schafft.

Was bleibt – ja, auch das ist Berlin – und manchmal etwas länger dauert, ist der Ausbau der Infrastruktur. Manche kennen diesen Baustein schon von mir, aber wenn jetzt, 100 Jahre nach der Gründung von Großberlin über den Neubau der Straßenbahnstrecke am Groß-Berliner Damm in Johannisthal – dort nach Adlershof – eine zweite Verbindung zwischen der ehemaligen Berliner, und der großen Cöpenicker Straßenbahn zustande kommt, zeigt das: Wir müssen schneller werden!

30 Jahre deutsche Einheit sind ein Anlass zurückzublicken, aber auch nach vorne, ein Anlass zu formulieren, was wir besser machen können und müssen. Deshalb will ich sagen, dass mir der Diskussionsaufschlag von Staats­sekretäre Nägele, Bezirksbürgermeisterin Hermann und Bezirksbürgermeister Benn gut gefällt, der auch die Frage stellt: Wo müssen wir Strukturen in unserer Verwaltung ändern, um besser, schneller und transparenter zu werden? –, anders, als übrigens 1990 mit dem Beitritt der DDR zur BRD nichts Neues entstand, sondern, wie Gysi es richtig formulierte, der arme Neffe bei der reichen Tante einbezog, und eher in der Tradition von 1920 einen Schritt zu wagen, der Jahrzehnte Entwicklung prägen kann.

In dieser Tradition wäre übrigens auch ein mutiger Schritt für eine qualitativ neue Zusammenarbeit zwischen Berlin und Brandenburg, weniger über- und stattdessen miteinander zu reden und gemeinsame Probleme bei Verkehr, Bauen und Wohnen und im Schulbereich zu lösen.

Anmut sparet nicht noch Mühe,
Leidenschaft nicht noch Verstand

– so beginnt Brechts Kinderhymne, die vor 30 Jahren auch in der Debatte für die Hymne für des vereinten Deutschlands war. Ich möchte uns alle aufrufen: Folgen wir diesem Appell Brechts und arbeiten jeden Tag für ein weltoffenes, gerechtes, friedliches, buntes und vielfältiges Berlin als europäischer Metropole, die den Herausforderungen der Zukunft zugewandt ist! – Vielen Dank!