Bericht des Untersuchungsausschusses zum Terroranschlag am Breitscheidplatz

Ich bin froh, dass wir heute keinen Sicherheitsbehördenentlastungsbericht vorlegen. Unsere Aufgabe war es ja nicht, uns schützend vor Polizei, Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft zu stellen, sondern ihr Handeln kritisch zu hinterfragen., sagt Niklas Schrader in seiner Rede zum Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses.

82. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses, 19. August 2021

Zu

Bericht des 1. Untersuchungsausschusses des Abgeordnetenhauses von Berlin – 18. Wahlperiode – zur Untersuchung des Ermittlungsvorgehens im Zusammenhang mit dem Terroranschlag am Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016

Bericht Drucksache 18/4000

Niklas Schrader (LINKE):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über vier Jahre intensiver Arbeit liegen hinter uns, und auch ich kann konstatieren, dass wir es geschafft haben, über die demokratischen Fraktionen hinweg gemeinsam die Hintergründe dieser schrecklichen Tat aufzuarbeiten, viele Vorgänge in den Sicherheitsbehörden aufzuarbeiten und Kontroversen kollegial und mit gegenseitigem Respekt auszutragen und dabei nie aus dem Blick zu verlieren, dass wir es mit einem Terroranschlag mit zwölf Toten, mit vielen Verletzten und Traumatisierten zu tun haben, dass wir den aufzuklären hatten und dass das eine riesengroße Verantwortung ist. Dafür auch von mir noch einmal vielen Dank an die Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Fraktionen, an das Ausschussbüro und auch an die Menschen in der Verwaltung, die dazu beigetragen haben!

Ich bin froh, dass wir heute keinen Sicherheitsbehördenentlastungsbericht vorlegen. Unsere Aufgabe war es ja nicht, uns schützend vor Polizei, Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft zu stellen, sondern ihr Handeln kritisch zu hinterfragen. Wir haben im gemeinsamen Bericht die Fehler, die gemacht wurden, und die Defizite, die behoben werden müssen, klar benannt. Ich finde, das war Teil unserer Verantwortung, und dieser Verantwortung sind wir auch gerecht geworden.

Meine Fraktion hat mit vielen Änderungsanträgen, die auch übernommen wurden, diesen Bericht mitgeprägt; wir legen dennoch ein Sondervotum gemeinsam mit diesem Bericht vor, weil wir mit einigen zentralen Feststellungen und Schlussfolgerungen über den gemeinsamen Bericht hinausgehen. Hier möchte ich ein paar Punkte aufgreifen: Ich will zum Beispiel in Erinnerung rufen, wie schnell und reflexhaft nach dem Anschlag eine Debatte entstanden ist über neue Befugnisse und neue Grundrechtseinschränkungen. Da wurden plötzlich Forderungskataloge aus den Schubladen gezogen, die über elektronische Fußfesseln bis hin zu Videoüberwachung alles Mögliche enthalten haben, auch Dinge, die gar nichts mit Terror zu tun haben. Das war vor jeder Aufklärung, und jetzt, danach, steht fest: Dieser Untersuchungsausschuss hat gründlich und eindeutig belegt, dass in vielen Punkten bereits bestehende Befugnisse und Möglichkeiten nicht umfassend genutzt wurden.

Da will ich Ihnen gern ein paar Beispiele nennen: Amris Telefone wurden abgehört, er hatte Telegram-Accounts, die zeitweise überwacht wurden, aber die Daten wurden nicht ausreichend ausgewertet. Schon im Februar 2016, lange vor dem Anschlag, hat die Polizei ein Handy von Amri beschlagnahmt. Da waren Fotos drauf, die ihn mit einer Kalaschnikow zeigen; das wurde bei der Berliner Polizei nicht gefunden. Es hat verschiedene Observationen gegeben, man hat Amri mit Personen beobachtet, von denen wir jetzt im Nachhinein wissen: Das waren wirklich relevante Personen aus der dschihadistischen Szene in Berlin, aber die wurden nicht weiter identifiziert. Eine gerichtlich angeordnete Observation endete plötzlich Mitte 2016, da ist Amri vom Radar verschwunden, wir wissen nicht genau, warum. Die Staatsanwaltschaft hat das im Grunde auch nicht weiter interessiert, die hat nicht nachgehakt, obwohl sie für die Verfahrensleitung verantwortlich war.

Es wurde hier schon gesagt: Amris Gefährlichkeit wurde von den Behörden falsch eingeschätzt, weil er sich ins Drogenmilieu bewegt hat. – Ja, das war eine falsche Einschätzung, aber wir sagen auch: Die nötigen Informationen für eine bessere, eine korrektere Einschätzung wurden erhoben oder hätten erhoben werden können.

Deswegen ist eine unserer Forderungen: Bevor wir über neue Instrumente, Überwachungsinstrumente, Grundrechtseinschränkungen reden, brauchen wir eine systematische Evaluation der bestehenden Befugnisse und ihrer Kosten und Nutzen. Es war richtig, dass diese Koalition sich nicht hat verleiten lassen und mit der Änderung des ASOG und anderen Maßnahmen die Polizeiarbeit verbessert hat, aber gleichzeitig die Bürgerrechte und die Freiheitsrechte in dieser Stadt gestärkt hat.

Jetzt sagen viele, die Fehler lagen vor allem am Personalmangel. – Ja, das stimmt. Es gab eine prekäre Personalsituation, insbesondere in einigen Bereichen beim LKA, und ja, die Koalition hat diese Situation deutlich verbessert. Ja, das war richtig, und das wird auch dazu beitragen, die Gefahren durch Terrorismus schneller und besser zu erkennen, aber ich möchte davor warnen zu denken, dass allein mehr Personal diese Defizite, die wir festgestellt haben, beheben kann. Deshalb sagen wir ganz klar: Es müssen auch Defizite in der Informationssteuerung, in der Dokumentation, in der Aktenführung, in der Prioritätensetzung und vor allem auch in der demokratischen Kontrolle in der Fachaufsicht behoben werden. Nur dann können wir die Arbeit des LKA wirklich verbessern. Wir sind da auf einem guten Weg, aber ich glaube, da haben wir noch viel vor uns.

Jetzt möchte ich noch einmal auf den Verfassungsschutz zu sprechen kommen. Wir haben hier ein Muster erlebt, das wir schon kennen: Erst wird versucht, sich aus der Schusslinie zu nehmen. Wir kennen alle diesen Spruch von Hans-Georg Maaßen – die Älteren werden sich erinnern, damals Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, heute eher so eine Art Schreckgespenst –,

der Amri sei ein reiner Polizeifall gewesen. So dreist gelogen hat man jetzt beim Berliner Verfassungsschutz nicht, aber auch die haben versucht, erst mal zu signalisieren: Wir haben mit der ganzen Sache im Grunde nichts zu tun.

Dann kommt durch die Arbeit der Untersuchungsausschüsse oder durch investigativen Journalismus heraus, dass die Ämter sehr wohl einen tiefen Einblick in die Szene hatten. Sowohl das Bundesamt als auch der Berliner Verfassungsschutz hatten V-Personen in Amris engerem Umfeld. Trotzdem hat dieses sogenannte Frühwarnsystem nicht funktioniert. Dann müssen wir hinterher feststellen, dass der sogenannte Quellen- und Methodenschutz die Aufklärung dann auch massiv behindert. Das war wirklich ein richtig zähes Ringen um Akten und Informationen. Beim Berliner Verfassungsschutz wurden dann sogar Monate nach dem Anschlag Fotos, die Anis Amri zeigen, irgendwo in einem Panzerschrank gefunden. Darüber wird dann nicht einmal das Abgeordnetenhaus informiert, nicht mal der Ausschuss für Verfassungsschutz und nicht der Untersuchungsausschuss. Das, sage ich, ist eine Missachtung der Parlamentsrechte, die gar nicht geht. Das geht leider auch auf Ihr Konto, Herr Innensenator!

Aber eins ist für uns völlig klar, und das stellen wir in unserem Sondervotum auch noch mal heraus: Dieses Auftreten der Geheimdienste – erst mal das Negieren, dann das sich in gewisser Weise Abschotten, Erkenntnisse zurückzuhalten, Aufklärung zu behindern – ist ja nicht einfach Bösartigkeit. Das ist systemimmanent. Das hängt damit zusammen, wie diese Dienste arbeiten, mit den Methoden, die sie anwenden. Das wiederholt sich. Wir hatten das beim NSU ja auch schon erlebt. Deswegen sagen wir: Wir brauchen nach wie vor eine grundsätzliche Debatte über die Geheimdienste, über ihre Methoden und darüber, was an ihre Stelle treten kann, um dieses Land sicherer zu machen.

Wir schließen diese Arbeit nun ab. Ich würde sie auch als erfolgreich bezeichnen, auch wenn noch sehr viele Fragen offen sind. Es gibt viele lose Fäden, denen wir eigentlich gerne noch nachgehen würden; insbesondere natürlich – die Frage ist hier schon angesprochen worden –, welche Helfer Amri hatte oder ob ein Netzwerk hinter ihm steht. Ja, dafür gibt es Indizien; noch keine Beweise, aber Indizien. Amri traf sich bis zuletzt mit Kontaktpersonen aus der salafistischen Szene. Es gibt DNA-Spuren im Lkw-Führerhaus, die noch nicht geklärt worden sind. Es gab vom Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpom­mern Hinweise darauf, dass Amri möglicherweise Fluchthelfer aus Berlin hatte. Es gibt also Dinge, denen man noch weiter nachgehen muss. Aber der Ball liegt jetzt, wo die Untersuchungsausschüsse ihre Arbeit beendet haben, bei der Generalbundesanwaltschaft. Das ist einfach die einzige Institution, wo die Fäden jetzt zusammenlaufen müssen, wo die Erkenntnisse von Untersuchungsausschüssen, Ermittlungsbehörden und auch Geheimdiensten zusammenkommen können.

Vorsichtig gesagt: Ich bin nicht wirklich optimistisch, weil die Erfahrung mit dem NSU gezeigt hat, dass dort nicht unbedingt die Neigung besteht, Netzwerke breit zu ermitteln und aufzuarbeiten und dabei auch die Geheimdienste in die Pflicht zu nehmen. Aber ich sage: Genau das ist jetzt bitter nötig, und ich finde, das sind wir den Opfern und Hinterbliebenen schuldig.

Insofern war das mein Schlussappell. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!